Nahostexperte Erich Gysling über den iranischen Raketenangriff
«Ich denke, es handelt sich um eine symbolische Aktion»

In der Nacht startete Israel eine Bodenoffensive gegen die Hisbollah-Miliz im Libanon. Nahostexperte Erich Gysling spricht über die Risiken. Die israelische Armee begebe sich in eine heikle Situation. «Es wird noch schwieriger als im Gazastreifen», sagt er.
Publiziert: 01.10.2024 um 17:48 Uhr
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Aktualisiert: 02.10.2024 um 15:25 Uhr
Nahostexperte Erich Gysling (88) sagt: «Die israelische Armee begibt sich in eine sehr heikle Situation, wenn sie in den Südlibanon eintritt.»
Foto: Thomas Meier

Auf einen Blick

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Daniel JungRedaktor News

In der Nacht auf Dienstag startete Israel mit einer Bodenoffensive gegen die Hisbollah-Miliz im Süden des Libanon. Damit hat die Lage in Nahost eine neue Eskalationsstufe erreicht, hat ein dritter Libanonkrieg begonnen. Nahostexperte Erich Gysling (88) war Chefredaktor des Schweizer Fernsehens und Mitbegründer der «Rundschau». Er hat zahlreiche Reisen in den arabischen Raum unternommen und ist Autor verschiedener Bücher, etwa «Krisenherd Nahost». Die beiden früheren Libanonkriege ab 1982 und 2006 hat er als Korrespondent und Kommentator hautnah miterlebt. Gegenüber Blick erklärt Gysling, warum er einen langen Krieg erwartet – und, wie es weitergehen könnte.

Der Iran hat Israel am Dienstagabend mit Hunderten Raketen attackiert. Ist das der Anfang von einem grösseren iranischen Angriff?
Erich Gysling: Es ist jedenfalls ein Zeichen, dass sich die radikalen Revolutionswächter innerhalb des iranischen Machtapparates durchgesetzt haben. Ich denke aber, es handelt sich um eine symbolische Aktion. Die meisten Raketen konnte Israel abfangen. Es ist ein ganz ähnliches Vorgehen wie letzten April, als der Iran schon einmal Drohnen und Raketen auf Israel schoss.

In der Nacht auf Dienstag hat Israel die Bodenoffensive in den Libanon gestartet. Hat Sie das überrascht?
Nein, das hat mich nicht überrascht. Die Israeli haben ja schon vor Tagen angekündigt, dass das passieren wird. Und sie haben die Truppen an die Grenzen verschoben.

Die israelische Armee spricht von «begrenzten» Angriffen auf Ziele in Grenznähe. Wird es dabei bleiben oder erwarten Sie einen grossen Krieg?
Ich vermute, es gibt einen langen Krieg. Als die Israelis nach dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 in den Gazastreifen einmarschierten, nahmen sie an, es werde ein kurzer Feldzug. Es kam ganz anders. Im Libanon ist die Situation viel schwieriger, weil das Gelände kupiert ist. Es sind viele Hügelzüge mit kleinen und grösseren Dörfern. Das ist ein sehr schwieriges Gelände für jeden Angreifer. Für den Verteidiger ist es vergleichsweise einfach. Die israelische Armee begibt sich also in eine sehr heikle Situation, wenn sie in den Südlibanon eintritt.

Die Bodenoffensive im Gazastreifen hat die israelische Armee vor grosse Herausforderungen gestellt. Wird es im Libanon also nicht einfacher?
Die Situation ist eindeutig schwieriger als im Gaza-Streifen. Einerseits vom Gelände her, andererseits auch wegen der Ausbildung der Hisbollah-Kämpfer.

Wie stark ist die Hisbollah-Miliz nach den Pager- und Walkie-Talkie-Attacken noch?
Das Gros der Kämpfer ist noch vorhanden, auch wenn ein paar Tausend ausgeschaltet worden sind. Es wird angenommen, dass die Hisbollah etwa 40'000 bis 50'000 Kämpfer hat, die relativ gut trainiert sind. Sie sind starke Gegner. Das sieht man auch an den Angriffen, die jetzt weiterhin mit Raketen aus dem Libanon erfolgen.

Wie stark wurde die Hisbollah geschwächt durch die Eliminierung ihrer Führungsriege?
Das können wir alle nicht wissen, da wird viel spekuliert. Aber es ist in all diesen Guerilla-Organisationen so, dass relativ schnell eine nächste Schicht nachwächst, wenn die obere Schicht eliminiert worden ist. Was man nicht einschätzen kann, ist, wie gut sie noch miteinander kommunizieren können.

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In der Nacht auf Dienstag startete Israel eine Bodenoffensive in den südlichen Libanon: Rauch steigt auf über dem Vorort Dahieh, südlich von Beirut gelegen, nachdem israelische Kampfjets das Gebiet getroffen haben.
Foto: Anadolu via Getty Images

Kann Israel die Hisbollah mit Bodentruppen ausschalten?
Theoretisch kann man das schon. Ob das praktisch möglich ist, da sind Zweifel angebracht. Wie im Gazastreifen gibt es auch im Südlibanon ein Tunnelsystem, und das in einem kupierten Gelände. Darum bin ich nicht überzeugt davon, dass Israel dieses Ziel erreichen kann.

Könnte Israel die Hisbollah mindestens zurückdrängen, so, dass der Norden Israels sicherer würde?
Ja, das ist nicht ganz unrealistisch, aber letzten Endes entsteht eine stabilere Situation nur durch Verhandlungen. Wenn die Situation in der Schwebe bleibt, wird es sicherlich so sein, dass – auch wenn sich die Hisbollah vorübergehend zurückzieht – nach einiger Zeit eben doch wieder Raketenstellungen im Südlibanon eingerichtet würden. Und was man nicht vergessen sollte: Es wurden etwa 60'000 bis 70'000 Israeli intern vertrieben, und ungefähr gleich viele Libanesinnen und Libanesen mussten ihre Häuser verlassen.

SP-Nationalrat Fabian Molina kritisiert den israelischen Einmarsch im Libanon als illegal und «totaler Bruch mit Resolution 1701» des Uno-Sicherheitsrats. Wie beurteilen Sie dies?
Die Resolution wurde von beiden Seiten nie beachtet. Die Leute von Hisbollah hielten ihre Positionen weit bis in den Süden, bis an die Grenze. Und Israel hatte ebenfalls seine Soldaten und seine Truppen dort. Der auf beiden Seiten geplante Truppenrückzug fand nie statt. Wenn man Schuld zuweisen will, muss man diese auf beide Seiten verteilen.

Die Resolution 1701 entstand zum Ende des zweiten Libanonkriegs von 2006. Damals hatte Israel 34 Tage gegen die Hisbollah gekämpft, musste letztlich aber abziehen. Welche Fehler hat Israel damals gemacht?
Man kann nicht sagen, dass Israel Fehler gemacht habe, sondern die Situation war einfach nicht haltbar. Der Krieg hat zu viele Opfer aufseiten der Israeli gefordert. In der Folge versuchten sie, sich zurückzuhalten – in der Hoffnung, dass auch die Hisbollah sich zurückhält. Das hat während 17 Jahren halbwegs gut geklappt – bis zum Beginn des Gaza-Kriegs.

Wie könnte die aktuelle Invasion ausgehen?
Ich bin kein Prophet, ich kann das schlicht nicht sagen. Und ich glaube, niemand kann das. Als der Konflikt im Gazastreifen angefangen hat, wusste auch niemand, dass es Monate, bald ein Jahr lang dauert.

Wenn Israel im Libanon erfolgreich ist, folgt dann ein Angriff auf das iranische Atomprogramm?
Das glaube ich nicht. Israel will, dass die Iraner einsehen, dass ihre Unterstützung der Hisbollah und anderer Milizen keinen Sinn macht. Die Iraner sollen auch durch internationale Sanktionen in die Knie gezwungen werden. Einen direkten Krieg wollen die Israeli nicht.

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