Die Geschichte erschüttert. Und das auch nach vielen Jahren. Wo Kinder rennen, lachen und einander aufziehen, liegen die Knochen und Schädel anderer Kinder begraben. Sie sind gestorben an Unterernährung, wegen Krankheiten oder infolge mangelnder Sorge der Mütter in der Schwangerschaft. Unter einem Spielplatz in der westirischen Kleinstadt Tuam befinden sich die Überreste von fast 800 Babys und Kleinkindern, sogar solche von Föten. Neben Bauschutt und gläsernen Babyflaschen in einem mutmasslichen Abwassersystem.
Das Tragische: Die Knochen liegen dort auch über ein halbes Jahrzehnt, nachdem sie entdeckt worden sind. Wie die «New York Times» schreibt, sollen die kleinen Kinder jetzt allerdings endlich ein würdiges Begräbnis erhalten. Bloss: Wieso hat das so lange gedauert?
Eine unglaubliche Odyssee
Es ist eine Odyssee, die unglaublicher nicht sein könnte. Aber von vorn: Ins frühere Mutter-Kind-Heim St. Mary’s Mother and Baby Home, wo sich heute der Spielplatz befindet, schickte man im patriarchischen und streng katholischen Tuam unverheiratete Frauen, Schwangere und Mütter. In Obhut der Nonnen des Ordens «Sisters of Bon Secours» gebaren sie ihre Kinder. Danach wurden sie gedemütigt und als Arbeitskräfte ausgebeutet. Nach zirka einem Jahr hielten die Schwestern die meist jungen Frauen dazu an, die Einrichtung wieder zu verlassen – ohne ihre Kinder.
Diese wurden in der von der Regierung finanzierten Einrichtung, die enge Verbindungen zur katholischen Kirche hatte, ebenfalls alles andere als gut behandelt. Viele waren einsam. Und wohin sie später auch gingen, umgab sie ein Schleier der Scham und der Sünde. So nannten sie die Einwohner Tuams gar «Kinder des Teufels» – die Kleinen wurden zur Adoption freigegeben, weggegeben und auf industrielle Schulen geschickt. Oder: Sie starben.
Nur zwei von 800 wurden ordentlich begraben
Das alles kam ans Licht, als Lokalhistorikerin Catherine Corless (68) auf eine problematische Rechnung stiess. Gemäss ihren Nachforschungen starben mindestens 798 Kinder im St. Mary’s Mother and Baby Home während seiner Betriebszeit von 1925 bis 1961. Aber: Nur zwei wurden auf dem Friedhof gegenüber der Strasse begraben. Corless vermutete, dass sie sich auf dem Grundstück des Heimes unter der Erde befinden mussten, unter dem Spielplatz.
Zuerst glaubte man Corless nicht. Oder man wollte ihr nicht glauben, wie der «Stern» berichtet. Nachdem allerdings forensische Archäologen im Auftrag der Regierung deren Annahme bestätigt hatten, begab sich Irland auf eine lange, schmerzhafte Reise: Sie war gezeichnet von weiteren Nachforschungen, Selbstvorwürfen, bürokratischen Verspätungen, voll Kummer und Verdrängung.
Historikerin Corless kämpfte unermüdlich für die Kinder. Für deren Würde, für ein anständiges Begräbnis, wie «Irish Central» vermeldet. Ihrer Meinung nach verstossen die Vorfälle gegen das katholische Ethos und entwürdigten ganz Irland.
Sie sagt dem Papst ab
So nutzte Corless 2018 den Besuch des Papstes in Dublin, zu dem sie der irische Premierminister wegen ihres Engagements einlud, um ein Zeichen zu setzen. Nämlich, indem sie nicht hinging – weil ihr gesagt wurde, dass der Papst darüber nicht reden würde, der katholische Klerus keine Verantwortung übernähme. Stattdessen besuchte sie eine Totenwache zum Gedenken an die Kleinkinder.
Ende 2018 schlug die irische Regierung dann tatsächlich den Weg ein, der Corless vorschwebte. Die Beamten sagten allerdings, dass ein Gesetzesentwurf schwierig würde wegen der aussergewöhnlichen Situation, in der man sich befände. Dazu zählten der Zugang zum Grundstück, Datenschutz und Schutz der Privatsphäre. Ausserdem war es nicht einfach, geeignete Leute zu bestimmen, die dieses sensible Projekt betreuen würden.
2019 sollte dieser Gesetzesentwurf vorliegen, doch 2019 kam und ging – und nichts passierte.
2020 brachte noch mehr Verspätungen und Stress.
Corless besuchte daraufhin den neuen Minister für Kinder- und Jugendangelegenheiten, Roderic O’Gorman (41). Der reichte Anfang 2021 einen Entwurf beim zuständigen juristischen Komitee ein.
Der Premier entschuldigt sich öffentlich
Gleichzeitig erschien ein Report, der die emotionale Misshandlung im Heim dokumentierte und die Kindersterblichkeit als zweimal so hoch wie der Durchschnitt einstufte. Der neue Premierminister Micheál Martin (62) entschuldigte sich in der Folge öffentlich. Die «Sisters of Bon Secours» taten es ihm gleich.
Corless erschien wenige Monate später vor einem Komitee des irischen Parlaments, um noch einmal auf die Geschichte und die Dringlichkeit der Thematik hinzuweisen.
Und jetzt ist die Lösung nah. Diesen Sommer hat Irland ein Gesetz verabschiedet, das eine Massenausgrabung erlaubt. Das Parlament hat die gesetzliche Grundlage mit dem Namen «Institutional Burials Bill» durchgewunken, die Minister O’Gorman im Februar ankündigte. Sie umfasst nebst einer würdigen Beerdigung eine DNA-Analyse zur Identifikation. Und sie zählt zu den herausforderndsten Projekten, die je in diesem Bereich unternommen wurden: Kostenpunkt umgerechnet über 14 Millionen Franken, wozu die «Sisters of Bon Secours» knapp drei Millionen beitragen.
Der Skandal hat weitere Folgen
Die Arbeiten sollen 2023 beginnen. Der Skandal rund um die Mutter-Kind-Heime ist dadurch aber noch nicht vergessen. Nebst Tuam gibt es weitere Einrichtungen, jede mit ihrer eigenen Tragödie, und die Regierung ist dabei ein über 800 Millionen schweres Kompensationspaket für die Betroffenen zu verabschieden. In «Anerkennung des Leides», das diese in den Mutter-Kind-Heimen erlebten.
Der Spielplatz in Tuam ist heute abgesperrt. Ein Denkmal erinnert an die viel zu kurzen Leben.