69 Raketen und Dutzende Kamikaze-Drohnen liessen Wladimir Putins (70) Truppen am Donnerstagmorgen bei einem der heftigsten Angriffe der vergangenen Monate auf die Ukraine niederregnen. Mehr als drei Viertel der Geschosse konnte die ukrainische Luftabwehr abfangen. Dennoch mussten die Millionenstädte Odessa und Dnipro präventiv den Strom abschalten – und auch in der Hauptstadt Kiew war fast die Hälfte der Bewohner nach den jüngsten Attacken erneut ohne Strom.
«Russland will der Ukraine auch über das Jahresende keine Verschnaufpausen gönnen», erklärt Marcel Berni (34), Militärexperte der Militärakademie an der ETH Zürich. «Die Ukraine soll in Kälte und Dunkelheit versinken.» Das Kalkül des Kremls bestehe weiterhin darin, die Zivilbevölkerung im kriegsversehrten Land zu demoralisieren.
Das amerikanische Patriot-Luftabwehrsystem, das die USA an die Ukraine liefern werden, könnte laut Berni in Zukunft helfen, wichtige Bodenpositionen und Städte noch effektiver gegen solche Raketenangriffe zu verteidigen. «Allerdings wird es noch Monate dauern, bis das Patriot-System in der Ukraine eingesetzt werden kann», sagt der Militärexperte.
Raketenangriff als Zeichen der russischen Verzweiflung?
Das Patriot-System könnte insbesondere auch in Zukunft einen entscheidenden Unterschied machen, wenn Russland vermehrt auf die bislang zurückgehaltenen ballistischen Iskander-Raketen setzen wird, ergänzt Niklas Masuhr (29), Strategie-Forscher vom Center for Security Studies an der ETH Zürich. «Einen undurchdringlichen Schutzschild bilden die Patriot-Systeme aber nicht. Auch sie können – wie jedes Luftabwehrsystem – umflogen, elektronisch gestört oder mit einer Vielzahl von abgefeuerten Raketen übersättigt werden», betont Masuhr.
Hintergrund für den insgesamt zehnten koordinierten russischen Raketenangriff auf zivile Ziele in der Ukraine könnte der ins Stocken gekommene Vormarsch im Donbass sein. Laut der amerikanischen Denkfabrik «Institute for the Study of War» (ISW) gehen Russland die militärischen Kapazitäten aus, um die Angriffe auf die seit Monaten umkämpfte Stadt Bachmut fortzusetzen. Das zeige etwa der Umstand, dass mehrere ranghohe politische Vertreter der ukrainischen Regierung – nicht zuletzt Präsident Wolodimir Selenski (44) persönlich – Bachmut besuchen und mit den ukrainischen Truppen vor Ort sprechen konnten.
Friedensverhandlungen bleiben weiter unwahrscheinlich
Ein weiteres Indiz für die russische Krise auf dem Schlachtfeld sind laut den ISW-Experten die offenbar stets kleiner werdenden Kampfeinheiten, die auf massive menschliche Verluste auf der russischen Seite hindeuteten. Laut ukrainischen Regierungsquellen sind alleine am Mittwoch 790 russische Soldaten getötet worden.
Trotzdem: Auch zur Jahreswende, mehr als zehn Monate nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine, sieht Militär-Experte Marcel Berni kein Ende des Kriegs in Sicht. «Potenzial für Waffenstillstands- oder gar Friedensverhandlungen sehe ich im Moment nicht.» Die Forderungen der beiden Parteien klafften zu sehr auseinander. «Dieser Krieg ist leider noch nicht reif für Verhandlungen», sagt Berni.