Mut, das hat der Mann ohne Zweifel. Die Munition für seine Frontkämpfer aber, die fehlt ihm. Eigentlich nur logisch also, dass sich Wolodimir Selenski (44) Mitte der Woche auf gefährlichen Wegen aus seinem Land stahl und hinüberflog nach Washington, wo man vermeintlich beides im Übermass hat: Munition sowieso – und mit zunehmender Dauer dieses Krieges auch den Mut, sich dem russischen Terror entgegenzustellen.
Der Empfang für den «Helden» aus dem geschundenen Land hätte nicht ehrenvoller sein können: roter Teppich am Flughafen, lächelnder US-Präsident vor dem Weissen Haus, Standing Ovations im Kapitol, wo sich – bis auf ein paar wenige Vertreter vom rechten Rand der Republikanischen Partei – das gesamte amerikanische Parlament in seltener Einigkeit versammelt hatte, um Selenski Tribut zu zollen.
Doch Selenski erhoffte sich von seiner gefährlichen Reise nach Übersee mehr als nur herzlichen Applaus. Das machte er bei seiner knapp halbstündigen Rede vor dem US-Kongress überdeutlich. «Ohne eure Unterstützung können wir die Wende in diesem Krieg nicht herbeiführen», sagte der ukrainische Präsident, der im braunen Ukraine-Pulli und mit übermüdetem Blick zu den amerikanischen Polit-Eliten sprach. «Euer Geld ist nicht Wohltätigkeit, es ist ein Investment in die globale Sicherheit und die Demokratie!»
Selenskis unerfüllter Wunsch an die USA
Gleichentags noch schnürten die USA ein neues militärisches Hilfspaket in der Höhe von rund 1,8 Milliarden Dollar. Im vorzeitigen Weihnachtspäckli mit drin ist das Patriot-Luftverteidigungssystem: ein potenzieller Gamechanger, der die Ukraine ab nächstem Frühjahr befähigen wird, die anhaltenden Raketen- und Drohnenangriffe der russischen Truppen abzuwehren. Kiews Forderung nach einer Luftsperrzone über dem gesamten Land («Close the sky!») wird mit den jüngsten Zusagen aus den USA faktisch erfüllt. Mit weiteren amerikanischen Hilfeleistungen in der Höhe von rund 45 Milliarden Franken darf Kiew im kommenden Jahr rechnen.
Das ist viel Geld – zu viel, wenn man sich bei den konservativen Kreisen der Republikaner umhört. Man wolle wegkommen von den «Blankoschecks» für die Ukrainer, meinte jüngst etwa Kevin McCarthy (57), der bald zum Mehrheitsführer im zukünftig republikanisch dominierten Repräsentantenhaus aufsteigen dürfte. In den Augen von Selenski aber ist es zu wenig. Der Ex-Komiker meinte es todernst, als er Mitte der Woche in Washington klarstellte, dass seine Männer und Frauen in Uniform «problemlos amerikanische Panzer und Kampfjets bedienen können».
Russland behält den atomaren Trumpf im Ärmel
Doch Panzer oder Kampfjets schickt «Uncle Sam» trotz allen Flehens von den fernen Fronten keine in die Ukraine. Man mag das den Amerikanern verzeihen. Wir Schweizer liefern der couragiert kämpfenden Ukraine ja nicht mal Helme oder Schusswesten. Doch mit vorgeschobener Neutralitätsbekundung wie im helvetischen Fall hat die amerikanische Zurückhaltung punkto schweren Geschützes nichts zu tun.
Viel mehr hat Washington trotz der miserabel auftretenden russischen Truppen glücklicherweise noch nicht vergessen, dass es sich beim neo-zaristischen Kreml-Regime leider Gottes um eine Atommacht handelt, die mindestens auf der verbalen Ebene nicht davor zurückschreckt, dem Westen mit einem nuklearen Feuersturm zu drohen.
Daher bleibts dabei: keine Panzer und keine Kampfjets, trotz des charismatischen Vortrags von Selenski.
Die Schweiz tut nicht genug
Die Ukraine also wird nach zehn Monaten im Ring mit den Russen frisch aufgepäppelt – aber eben nur so stark wie nötig, um die nächste Runde zu überstehen. Zum K.-o.-Schlag ansetzen und die östlichen Terroristen ein für alle Mal in ihre traurigen Schranken zu verweisen, dafür reichen auch die besten Luftabwehrsysteme und die grosszügigen humanitären Zusicherungen nicht aus.
Der Kampf wird sich noch über viele todbringende Runden hinziehen. Für Europa bleibt tragischerweise genügend Zeit, dem Kriegstreiben noch eine Weile zuzuschauen und sich dabei die Frage zu stellen, ob man sich an den Amerikanern vielleicht doch langsam mal ein Vorbild nehmen und den eigenen Einsatz bei diesem Angriff auf unsere Demokratie erhöhen möchte. (Das gilt nicht für Estland, Lettland, Litauen, Polen, Norwegen und Tschechien, die gemessen an ihrer Gesamtwirtschaftsleistung heute schon mehr Unterstützung leisten als die USA.)
Diese Frage darf sich getrost auch die Schweiz stellen. Die Altjahreswoche bietet den perfekten reflexiven Rahmen dafür. Nicht, dass wir nichts gemacht hätten. 80 Millionen Ukraine-Hilfe, mitgetragene Russland-Sanktionen, Zehntausende Aufgenommene und eine irgendwie utopisch wirkende Wiederaufbaukonferenz in Lugano TI im vergangenen Sommer: Das zählt was. Und dass sich die Schweiz da einbringt, wo sie mit ihrer Expertise am effizientesten wirken kann (etwa mit 14 Millionen an Hilfeleistungen für die ukrainische Bahn), das ist gut durchdacht. Nur eben: Reichen, um diesen elenden Krieg zu beenden, das tut es nicht. Das hat uns dieses tragische Jahr überdeutlich gezeigt.