Langsam, aber scheinbar stetig, bewegen sich die russischen Truppen im Donbass vorwärts. Trotz ihrer Bemühungen, sich den Weg freizuschiessen, bewegen sie sich kaum vom Fleck.
Wie Militärhistoriker Phillips O'Brien (58) gegenüber der «SonntagsZeitung» erklärt, sei diese Methode, die ihn an den Ersten Weltkrieg erinnert, sehr ineffektiv. Durch ihre hohen Verluste an Kriegsmaterial «fehlt ihnen schlicht die Möglichkeit, schnell vorzustossen». Und: «Selbst wenn es ihnen gelingt, ein Loch in die Verteidigungslinien zu schiessen, können sie das nur selten ausnutzen und Geländegewinne erzielen.»
Zudem sei die russische Armee noch immer sehr unkoordiniert. Statt gleichzeitig von mehreren Seiten anzugreifen, scheint man sich zwischen den Himmelsrichtungen abzuwechseln. «Das ist, nach jedem Standardverständnis von Militäroperationen, unkoordiniert», so O'Brien zur Zeitung.
Moskau könnte bald Sieg im Donbass verkünden
Viele Optionen habe die russische Armee so oder so nicht mehr, schätzt der Historiker. Im Allgemeinen könne man beobachten, dass die Kampftätigkeit in der Ukraine nachlasse und die russischen Truppen einen langen Krieg nicht mehr mitmachen könnten, ein Ende der Offensive sei aber noch immer schwer vorauszusagen.
Er vermutet aber: Moskau wolle so viel vom Donbass einnehmen wie möglich – und dann den Sieg erklären. «Sie besetzen den Donbass, bieten eine Feuerpause an und versuchen so, den Krieg zu beenden und einige Sanktionen loszuwerden». Sobald man dann den «Sieg» im Donbass verkündet habe, werde man «ein paar gefälschte Volksabstimmungen» durchführen, deren Ergebnis sein wird, dass die besetzten Gebiete Russland beitreten wollen.
Würde die Ukraine aber eine solche Feuerpause überhaupt akzeptieren? Nein, sagt O'Brien: «Solange Kiew das Gefühl hat, es bekommt die Unterstützung, die es braucht, solange die Ukrainer ihre Streitkräfte weiter ausbauen können, ist es sehr unwahrscheinlich, dass sie eine von Russland angebotene Feuerpause akzeptieren. Völlig zu Recht. Sie würden ja 20 Prozent ihres Landes verlieren.»
Ukraine hat Krieg teilweise schon gewonnen
Laut O'Brien gibt es zwei Kriege in der Ukraine – und einen davon soll die Ukraine bereits gewonnen haben. «Russland kann die Ukraine nicht erobern. Das haben die ersten drei Monate des Krieges gezeigt. Legt man also zugrunde, was das russische Ziel am 24. Februar war, am Tag des Überfalls, dann ist das ein Sieg der Ukraine», so O'Brien. Was auch immer geschehe, die Ukraine bleibe als intakter Staat bestehen.
Jetzt gehe es allerdings darum, wie viel Russland im Süden und Osten der Ukraine annektieren könne. «Und da wird es für die Ukraine schwieriger», vermutet der Experte. «Denn jetzt muss sie die Russen zurückschlagen, muss ihrerseits irgendwann in die Offensive gehen. Aber ich glaube, wenn sie die richtigen Waffen bekommen, haben sie eine Chance, das zu tun.» (chs)