Der Krieg in der Ukraine hat in Serbien prorussische Demonstrationen ausgelöst. Ein Teil der Serben heisst nämlich die Invasion Putins ins Nachbarland gut.
Zwei ehemalige sogenannte Hohe Repräsentanten der Internationalen Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina warnen in einem Brief an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (63) davor, dass die Aggression in der Ukraine auf den Westbalkan übergreifen könnte.
Wie gross ist diese Gefahr? Daniel Bochsler* (43), Politikprofessor an der Central European University (CEU) in Wien und an der Universität Belgrad, schätzt die Lage ein.
Welche Auswirkungen hat die Ukraine-Invasion auf den Balkan?
Daniel Bochsler: «Gleich wie die Ukraine ist der westliche Balkan im Spannungsfeld zwischen dem Kreml und dem Westen. Putin versucht die Stabilisierung der Region seit Jahren zu torpedieren, sei es mit seiner Unterstützung für den serbischen Nationalisten Milorad Dodik in Bosnien und Herzegowina, der Involvierung russischer Leute in Störmanöver gegen die Wahlen in Montenegro oder der Desinformationskampagne gegen die Mazedonierinnen und Mazedonier, als es um die Lösung des Namensstreits ging.
Über den UN-Sicherheitsrat hat Russland auch ein Vetorecht gegen die Verlängerung des Mandats europäischer Friedenstruppen in Bosnien und Herzegowina.
Aber vielleicht ergibt sich jetzt auch ein Boomerang-Effekt: Wenn nämlich die EU die Gefahr erkennt und dem Westbalkan wieder die Priorität zukommen lässt, die die Region aufgrund ihrer engen sozialen, historischen und wirtschaftlichen Verbindungen mit dem Rest Europas verdient. Aus Berlin gibt es positive Zeichen dafür.»
Wie gross ist die Gefahr eines neuen Krieges auf dem Balkan?
Daniel Bochsler: «Das kommt darauf an, wie der russische Angriffskrieg ausgeht. Der russische Krieg liest sich ja als Fortsetzung der russischen Invasion von 2008 in Georgien, gefolgt von der Ukraine und Syrien. Nirgendwo sonst in Europa hat Putin so namhafte Verbündete wie im Westbalkan, und er könnte hier offene Konflikte weiter eskalieren lassen.
Europa und die USA sind jetzt gefordert, rechtzeitig die militärische Präsenz in der Region zu stärken und politische Lösungen für die ungelösten Fragen zu beschleunigen.»
Wie gross ist die Gefahr für die Swisscoy im Kosovo?
Daniel Bochsler: «Man kann Kriege nie voraussehen; der Kosovo ist da keine Ausnahme. Bereits heute organisieren kriminellen Gruppen, getarnt als serbische Nationalisten, im Norden Kosovos regelmässig Unruhen, unterstützt von der Regierung Serbiens. Gut möglich, dass der russische Angriffskrieg da reinspielt.
Aber es ist gerade die Aufgabe der internationalen Friedenstruppen, und damit auch der Swisscoy, diese Konflikte einzudämmen. Mir scheint aber, die namhaftere Gefahr kommt aus Bosnien und Herzegowina, aus Serbien und aus Montenegro.»
Nehmen die nationalistischen Strömungen wieder zu, die ein Grossserbien fordern?
Daniel Bochsler: «Persönlich finde ich es widerwärtig, dass einige Leute hier Erfüllung finden im unglaublichen Leid der ukrainischen Bevölkerung und auf Kriegsverbrechen mit nationalistischen oder pro-russischen Fantasien reagieren. Den Boden dazu hat Milosevic’s Informationspolitik aus den 1990ern gelegt, in der die Serben als Opfer der internationalen Politik dargestellt wurden.
Auch heute, befeuert durch die Medien, notabene grossmehrheitlich durch die Regierung kontrolliert, aber auch durch Filme oder Gedenktage, sehen sich viele Serbien absurderweise als Opfer der Jugoslawienkriege und der Sanktionen. Entsprechend erkennen sie jetzt in den Russen Leidensgenossen. Aber nichts davon ist neu. Ob die daraus wachsenden politischen Bewegungen gestärkt werden, ist zu früh zu urteilen.»
Von welchem Gebiet geht man heute bei «Grossserbien» aus?
Daniel Bochsler: «Die serbischen Grenzen sind klar gezogen, dort wo sie auch heute sind. In der Trump-Ära gab es Träumereien über einen Gebietsabtausch mit Kosovo und darüber hinaus, aber das ist zum Glück vorbei. Die Wortführer Grossserbiens sind viel lauter als ihr politisches Gewicht.
Die grösste Gefahr für den Frieden in der Region kommt dem grossserbischen Nationalisten Milorad Dodik zu, der die Politik in Bosnien und Herzegowina über eine Art «bosnisches Ständemehr» blockieren kann und es auch tut.»
Kann Bosnien-Herzegowina so weiter bestehen?
Daniel Bochsler: «Es muss weiterbestehen. Jeder Versuch der Teilung würde erstens neue Flüchtlinge, womöglich auch neue Kriege provozieren, und zwar auch über Bosnien hinaus. Zweitens wäre das ein politischer Nachvollzug des Völkermords von Srebrenica.»
Wie kann man den Frieden auf dem Balkan bewahren?
Daniel Bochsler: «Wolodimir Selenski hat vor einigen Tagen das EU-Beitrittsgesuch der Ukraine eingereicht, Moldova und Georgien haben nachgezogen. Ein beschleunigter Weg in die EU, über den jetzt diskutiert wird, müsste auch für die Westbalkan-Länder offen sein – unter harten, aber verbindlichen politischen Bedingungen.
Die meisten Bürgerinnen und Bürger hier wollen Kriege und Konflikte hinter sich lassen und an Europa teilhaben. Aber die EU müsste jetzt endlich die Türe öffnen. Aus völlig absurden Gründen werden die Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien, das die Bedingungen längst erfüllt hat, blockiert. Solange sich die EU nicht bewegt, kann kein Politiker glaubhaft eine europäische Perspektive versprechen – weder im westlichen Balkan noch in Kiew.»