Wie eine Eruption bricht der Jubel aus der italienischen Seele. Goalie Gianluigi Donnarumma (22) hält den letzten Penalty. Italien ist Europameister – 53 lange Jahre musste das Land auf einen erneuten EM-Sieg warten. Jetzt ist es passiert. Die Italiener sind ausser Rand und Band.
Ob in Rom, Mailand oder Neapel. In jeder italienischen Stadt strömen sie zu Tausenden auf die Strassen und Plätze. Die Gesichter in den Farben der Flagge bemalt. Sie liegen sich in den Armen, skandieren die Hymne. Delirium bis in die Morgenstunden. Auch daheim zählt nur König Fussball. Knapp 84 Prozent der Italiener verfolgen den EM-Final auf den TV-Sendern Rai und Sky.
Seit anderthalb Jahren in Lockdowns gefangen
Das böse Virus scheint vergessen. Heute zählt nur die «Corona» – die Krone, die Kultverteidiger Giorgio Chiellini (36) bei der Ankunft der Fussballhelden in Rom auf dem Kopf balanciert. Ein Symbol für die Wiedergeburt, schreiben italienische Medien euphorisch. Sie titeln: «Wir sind Europa», «Italien, wir lieben dich wie verrückt», «Europa gehört uns!».
Seit anderthalb Jahren ist ein Volk in diversen Lockdowns gefangen. Geknebelt durch die Maske. Körperkontakt ist verboten. Von Italien aus breitete sich die Pandemie über Europa aus. Das Virus spaltet die EU, weist die Länder in ihre Grenzen. Die Angst vor tückischer Infektion und sozialem Abstieg frisst den Mut. Italien trauert schliesslich um 128 000 Covid-Tote.
Besonders gepeinigt ist Bergamo. Dort, wo im letzten Jahr Militärkonvois Särge aus der Stadt schafften, weil die Zahl der Corona-Opfer die Friedhöfe sprengte, kennt der Jubel über den EM-Sieg keine Grenzen. «Nach einem so schrecklichen Jahr, mit den vielen toten Freunden und Verwandten, war allein schon dabei zu sein ein Fest. Zu gewinnen ist so eine Freude», sagt eine Grossmutter gegenüber «La Stampa» beim Public Viewing. Sie sei den Jungs der «blauen Mannschaft» so dankbar. «Auch wenn unsere Elf nicht gewonnen hätte, wir waren wieder eins, nicht in der Trauer um unsere Toten, sondern im Stolz», sagt ein junger Mann, und eine Dame fügt hinzu: «Er ist die erste Freude nach zu langer Zeit.»
«Jeder Italiener fühlt sich als Sieger»
Psychologe Loris Pinzani (58) erlebt den Siegestaumel hautnah. «Ich lebe in der Innenstadt von Florenz», sagt der Kolumnist und Kommentator einiger italienischer TV-Sender. Aber: «So einen explosiven Jubel habe ich seit 1982 nicht mehr erlebt. Damals wurde Italien Weltmeister.» Am Sonntagabend seien sie auf die Strasse feiern gegangen. Junge, Alte, Arme, Reiche. «Jeder fühlt sich hier als Sieger», sagt Loris Pinzani im Blick-Gespräch und erklärt, was die Europameisterschaft für das gebeutelte Land bedeutet. Die Menschen seien aus einer schwarzen Zeit getreten. «Diese Freude ist gesund», sagt Pinzani und ergänzt: «Die Italiener haben sich mit der Siegesfeier ein Stück Vitalität gegönnt.»
Er führt aus: «Die Pandemie hat uns zutiefst verunsichert.» Die Angst sässe tief in der Psyche. Das Virus habe jeden bedroht, egal, ob er Geld auf dem Konto hatte oder nicht. «Es herrschte ein kollektives Elend», so der Psychologe. Zudem sei die Frustration gross gewesen. «Für die Italiener und Italienerinnen ist die Kommunikation sehr emotional. Die Emotion nährt sie wie Brot», sagt Pinzani. Und: «Die Lockdowns haben den Ausdruck dieser Emotionen unterdrückt.» Damit könne die Bevölkerung schlechter umgehen als beispielsweise Leidensgenossen in der Schweiz, Deutschland oder Dänemark.
«Benzin für den Motor unseres Landes»
Die Europameisterschaft habe die von der Pandemie auferlegten Grenzen gesprengt. «Man kam wieder zusammen. Wichtig war es, zu siegen, nicht den anderen zu schlagen», sagt Loris Pinzani. «Die Italiener sind stolz auf ihre Talente. Es hat geschmerzt, so lange Zeit nicht mehr die Ersten oder Zweiten oder Dritten zu sein.» Auch dem angekratzten Selbstbewusstsein habe der EM-Pokal gutgetan.
Voller Hoffnung schreibt «La Stampa»: «Europameister wird eine Mannschaft, die mit jedem Spiel gewachsen ist, mit dem Geist eines Italiens, das den Weg verloren hatte. Nach schrecklichen anderthalb Jahren war es mühevoll neu zu starten. Der Einsatz der Nationalmannschaft füllt kostbares Benzin in den Motor unseres Landes.»