Auch einige Tage nach dem Abzug der russischen Truppen sind die Ausmasse des Verbrechens in der ukrainischen Stadt Isjum noch immer nicht klar. Jeden Tag entdecken ukrainische Truppen vor Ort neue Massengräber und Folterkammern. Auch vor Entführungen schreckten Putins Männer nicht zurück: 80 Kinder wurden verschleppt und vermutlich nach Südrussland gebracht.
Die russischen Soldaten ermordeten während ihrer Zeit in Isjum offenbar massenweise Zivilpersonen, wie ein Bericht des «Telegraph» zeigt. Wolodimir Kolesnik etwa verlor während der russischen Besatzung seinen Cousin Jui, dessen Frau Swetlana sowie seine Mutter Natalia. «Eine Bescheinigung für ihren Tod habe ich nie erhalten, nur eine Liste mit drei Nummern», erzählt Kolesnik.
199, 164 und 174. Die Nummer der jeweiligen Gräber, in denen Kolesniks Verwandte liegen sollen.
Leichen weisen Gewaltspuren auf
«Sie haben viele Leute umgebracht. Dann sind sie zu uns gekommen und verlangten Geld. Wenn wir die Leute vernünftig und stattlich begraben wollten, kostete das 7000 Hrywnja (umgerechnet rund 185 Franken)», so Kolesnik gegenüber dem «Telegraph». Weil seine Familie das Geld aber nicht hatte, wurden die Leichen in umnummerierten Gräber in einem Pinienwald nahe der Stadt deponiert. Erst nach dem Abzug der russischen Truppen traut sich Kolesnik, die Gräber seiner Verwandten zu besuchen und die Nummern durch Namen zu ersetzen.
Der Pinienwald von Isjum wurde in den vergangenen Tagen weltweit bekannt. Bis am Freitag wurden in dem Wald rund 450 «hastig zugeschüttete Gräber» entdeckt.
Laut dem Gouverneur der Region, Oleg Synegubow, würden «rund 99 Prozent aller bislang entdeckten Leichen» Spuren von Gewalt aufweisen. «Wir haben mehrere Leichen entdeckt, deren Hände auf dem Rücken gefesselt sind. Eine Person ist mit einem Strick um den Hals begraben», so Synegubow.
«Wie im Gefängnis»
Auch Anton Chernyshow (31) erlebte die Brutalität der Russen in Isjum hautnah mit. Gegenüber dem «Telegraph» erzählt er, dass mehrere seiner Nachbarn gefangen genommen und gefoltert wurden. Es seien ausschliesslich russische Radioprogramme und Zeitungen erlaubt gewesen, Handyempfang gab es kaum.
«Wir lebten während der Besatzung wie im Gefängnis», erzählt Chernyshow. «Ich vermied jeden Kontakt mit den Russen, weil ich von Leuten auf der Strasse von Folterungen hörte. Ich sah meine Bekannten mit gebrochenen Nasen und blauen Flecken an den Händen.»
Dennoch hätten die Bewohner die Hoffnung nie aufgegeben, sagt auch Wolodimir Kolesnik. «Ich hatte nie auch nur ansatzweise einen Zweifel daran, dass die ukrainische Armee zurückkehren und für uns kämpfen würde. Niemals.» (zis)