Mehr als zehn Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sind noch immer ohne Strom. Selbst die Ärzte in den Notfallstationen operieren im Taschenlampenlicht. Und Hilfsorganisationen schätzen, dass der Winter noch einmal bis zu 300'000 Menschen aus dem Kriegsland in die Flucht zwingen könnte.
Doch die Ukraine denkt nicht ans Aufgeben. Im Gegenteil: Kiew reagiert mit einem neuen Abwehrrezept, das an die Schweizer Réduit-Strategie im Zweiten Weltkrieg erinnert. Ähnlich wie die helvetische Regierung, die Anfang der 1940er-Jahre für den schlimmstmöglichen Fall einen Rückzug der Bevölkerung in die Alpenbunker vorgesehen hätte, setzt auch die Regierung von Wolodimir Selenski (44) jetzt auf vermeintlich unbezwingbare Sicherheitsräume für die notleidenden Menschen.
Selenski legt sich wegen «Punkten der Unbezwingbarkeit» mit Klitschko an
Anders als im Alpenland Schweiz aber trommelt die flache Ukraine ihre Bevölkerung nicht in Bergbunkern zusammen, sondern in sogenannten «Punkten der Unbezwingbarkeit». Das sind Räume in Verwaltungsgebäuden, Schulen, Bahnhöfen oder teils auch nur aufgestellte Winterzelte, die gegen alle Widrigkeiten geheizt und dank Notstromaggregaten mit Elektrizität ausgestattet werden.
Wer es in seiner eiskalten Stube nicht mehr aushält oder in seinem kaputten Haus fast verzweifelt, soll die Möglichkeit erhalten, sich in diesen «unbezwingbaren» Räumen aufzuwärmen, ein paar Stunden Schlaf nachzuholen und seine elektronischen Geräte aufzuladen. Viele der rund 4000 «Punkte der Unbezwingbarkeit» sollen zudem mit Babystationen eingerichtet werden.
Präsident Selenski hat die neue zivile Verteidigungsstrategie vor wenigen Tagen publik gemacht. Beraten hat ihn dabei unter anderem der britische Überlebenskünstler und ehemalige Elitesoldat Bear Grylls (48). Grylls, der mit seiner Fernsehshow «Ausgesetzt in der Wildnis» weltweit berühmt wurde, hat in Kiew einige «Punkte der Unbezwingbarkeit» besucht. Selenski hat sich wegen der Mini-Réduits sogar öffentlich mit Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko (51) angelegt, der sich – anders als viele Amtskollegen in anderen Städten – «nicht vorbildlich» um die Räume in seinem Bezirk gekümmert habe.
Schweizerin hilft bei ukrainischen Réduit-Bemühungen mit
Stark involviert in den ukrainischen Réduit-Bemühungen ist auch die gebürtige Wädenswilerin Eva Samoylenko-Niederer (40), die bis zum Kriegsausbruch im Donbass ein Kinderheim betrieben hat und jetzt mit ihrem Verein «Segel der Hoffnung» notleidenden Ukrainern unter die Arme greift.
Die Idee für die «Punkte der Unbezwingbarkeit» habe es schon länger gegeben, erzählt Samoylenko-Niederer im Gespräch mit Blick. «Man hat bislang aber davon abgesehen, weil solche Orte natürlich einfache Ziele für russische Raketen darstellen.» Der kalte Winter habe die ursprünglichen Sicherheitsabwägungen aber über Bord geworfen. «Die Menschen müssen sich fragen: Will ich erfrieren – oder gehe ich in einen Punkt der Unbezwingbarkeit und riskiere einen Terroranschlag?» Eine andere Wahl hätten viele kriegsgeplagte Ukrainer in diesem Winter nicht.