«Viele verfallen dem Alkoholismus – ich versuche mich abzulenken»
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Ukrainerin zum Alltag in Kiew:«Viele verfallen dem Alkoholismus»

Mit Beten, Klebeband und Vertrauen in die Luftabwehr – so entkommen die Kiewer Putins Bombenhagel
«Ich freue mich immer, wenn ich am andern Tag noch lebe»

Die ukrainische Hauptstadt Kiew war im Mai unter Dauerbeschuss von russischen Raketen. Es herrschen Angst, Wut, aber auch eine gewisse Gleichgültigkeit. Ukrainerinnen berichten, wie der Bombenterror ihr Leben verändert hat.
Publiziert: 03.06.2023 um 15:55 Uhr
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Aktualisiert: 04.06.2023 um 07:02 Uhr
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Bei Bombenalarm suchen viele Ukrainer eine Metrostation auf.
Foto: Metro Kiew
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Guido FelderAusland-Redaktor

Der Krieg ist nach Kiew zurückgekehrt. Bei einem russischen Angriff mit zehn Iskander-Raketen starben in der Nacht auf Donnerstag zwei Erwachsene und ein Kind. Es war der internationale Kindertag, der in der Ukraine besonders gefeiert wird.

Der ukrainische Journalist Denis Trubezkoi twitterte: «Luftangriff Nummer 19 auf Kiew in der aktuellen Welle.» Im Mai wurden innerhalb eines Monats so viele Raketen, Marschflugkörper und Drohnen auf Kiew abgefeuert wie noch nie seit Beginn des Kriegs. Auch in den Folgenächten gingen die Angriffe weiter.

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Seit die Russen modernere Geschosse wie Hyperschallraketen einsetzen, wird die Zeit zwischen der Auslösung des Alarms und dem Einschlag immer kürzer. Am Donnerstag trafen die ersten Raketen nur fünf Minuten nach dem Ertönen der Sirenen in Kiew ein. Die ukrainische Luftabwehr konnte zwar alle abfangen. Es waren aber Trümmer, die Tote und Verletzte forderten sowie grossen Sachschaden anrichteten.

Vor verschlossenem Bunker

Besonders tragisch: Mehrere Personen, die am Donnerstag Schutz suchten, standen vor verschlossenen Bunkertüren. Ein Mann berichtete dem örtlichen Sender Suspilne: «Der Luftangriffsalarm begann. Wir rannten zu einem Tierheim. Aber niemand hat es für uns geöffnet. Die Leute haben so lange geklopft. Frauen mit Kindern waren da.» Seine Frau ist eines der drei Todesopfer.

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Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko (51) steht in der Kritik, weil er es versäumt habe, seit Ausbruch des Kriegs ein funktionierendes Bunkersystem einzurichten. Der seinerseits gibt einem betrunkenen Bunkerchef die Schuld und hat eine strafrechtliche Untersuchung eingeleitet. Laut «Politico» mehren sich die Beschwerden über Notunterkünfte, die aus unerklärlichen Gründen geschlossen sind.

Fenster mit Klebband gesichert

Die Bewohnerinnen und Bewohner von Kiew haben sich auf die neue Bombenwelle eingestellt. Diana Chalimowa (38) sagt gegenüber Blick: «Ich schlafe nur noch im Trainer und habe eine Tasche gepackt, damit ich mich bei Alarm sofort in Sicherheit bringen kann.» Inhalt des Gepäcks: Dokumente, Powerbank, Wasser, Schokolade, Kleider. Die Fensterscheiben ihrer Wohnung hat sie mit Klebestreifen überzogen, damit sie bei Erschütterungen nicht gleich bersten und Scherben herumfliegen.

In der Nacht auf Donnerstag erwachte sie durch das laute Zischen der Bomben über der Stadt. Sie sah, wie die Geschosse über die Häuser flogen und von Luftabwehrraketen zerstört wurden. «Jetzt bombardieren sie mich», sei ihr durch den Kopf gefahren. Erst vor wenigen Tagen sei ihr 37-jähriger Cousin an der Front im Bachmut gefallen.

Leben im Parkhaus

Mit ihrer Tasche fuhr sie per Lift vom achten Stock ins schützende Untergeschoss, wo sich das Parkhaus befindet. Die Halle ist inzwischen zur zweiten Wohnung und auch zum Büro der Import-Export-Projektleiterin geworden. Viele Leute treffe sie hier aber nicht mehr an: Von den 300 Wohnungen seien inzwischen nur noch etwa 25 besetzt.

Auch wenn man es ihr nicht ansehe, lebe sie in ständiger Angst. Das habe unter anderem damit zu tun, dass sie in der Nähe des Regierungsviertels wohne. Diese Einrichtungen könnten zu Zielen der russischen Angriffe werden.

Diana Chalimowa lebt heute bescheiden. Ein Auto vermöge sie nicht mehr. Wenn es sie nach einer Kiwi gelüste, müsse sie sich mit Brot und anderen Grundnahrungsmitteln begnügen. Jeden Abend wälze sie sich im Bett und denke über ihre Zukunft nach. Kommen auch diese Nacht die Bomben? Sie sagt: «Ich freue mich immer, wenn ich am andern Tag noch lebe und die ukrainische Flagge im Wind flattern sehe.»

Alarm auf stumm geschaltet

Für andere Ukrainer sind die nächtlichen Angriffe schon fast Routine geworden. Deutschlehrerin Dina Didenko (45) hat sogar die Alarm-App auf ihrem Handy auf stumm geschaltet. «Ich vertraue auf unsere Luftabwehr», sagt sie zu Blick. Anfangs habe sie jeweils einen Bunker aufgesucht, inzwischen begäben sich ihr Mann und sie jeweils vom obersten Geschoss des fünfstöckigen Mehrfamilienhauses einen Stock tiefer und warteten zwischen den dicken Korridormauern, bis die Bombardements vorüber seien.

Das grosse Problem sei die Müdigkeit. «Oft nehme ich meine Arbeit am Morgen mit grossem Schlafmanko auf», sagt sie. Wenn dann im Ausland lebende Schülerinnen und Schüler zu spät zu den Onlinekursen erscheinen und sich mit «Sorry, ich habe verschlafen» entschuldigen, denke sie sich jeweils einfach: Hauptsache, wir sind alle gesund.

HR-Managerin Tatjana Kotscherewa (49) brachte sich jeweils auch im Keller in Sicherheit. Weil die russischen Angreifer aber mit moderneren Geschossen angreifen, reicht die Zeit nach Auslösung des Alarms nicht mehr immer dazu. «Dann stellen wir uns in der Wohnung zwischen dicke Mauern und beten», sagt sie. Für sie sei die Situation heute fast schlimmer als zu Kriegsbeginn. «Wir sind erschöpft und haben Angst um die Kinder», sagt sie.

Kiew verlassen? Kein Thema

Auch die Bankangestellte Nataliia Woronina (35) vertraut auf Gott und auf ihr Schicksal. «Jeder Mensch hat ein Schicksal. Wenn die Zeit reif ist, kommt es nicht darauf an, wo du bist», sagt sie. Der Krieg habe dazu geführt, dass sie jeden Moment geniesse. «Früher plante ich weit im Voraus, heute gehe ich einfach spontan raus, wenn ich Lust auf einen Kaffee und jemanden zu treffen habe.»

Trotz des russischen Dauerbeschusses will kaum jemand die Hauptstadt verlassen. «Wir haben hier unsere Familie und unsere Arbeit», sagt Dina Didenko. «Wir arbeiten, damit wir unsere Armee unterstützen können.» Und Tatjana Kotscherewa ist optimistisch. «Im Mai, wenn Kiew jeweils aufblüht, hatten wir immer Gäste aus andern Regionen. Ich glaube, dass das bald wieder der Fall sein wird.»

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