Hier wird ein ukrainischer Soldat beerdigt
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Täglich 200 Opfer:Hier wird ein ukrainischer Soldat beerdigt

Mindestens 200 ukrainische Kämpfer sterben jeden Tag im Krieg
Selenski will nicht über getötete Soldaten reden

Die ukrainischen Erfolge im Krieg haben eine Schattenseite: Tausende junge Männer und Frauen verlieren in den Schlachten ihr Leben. Doch über die Todeszahlen hüllt sich Kiew in Schweigen. Den Schmerz der Hinterbliebenen macht das nur noch grösser.
Publiziert: 19.09.2022 um 12:12 Uhr
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Aktualisiert: 21.09.2022 um 12:52 Uhr
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Vlad Sokolov wurde von einem Granatsplitter am Hals getroffen und getötet.
Foto: Stefan Graf
Samuel Schumacher (Text) und Stefan Graf (Video)

Stefan Graf (44) hat schon viel gesehen in diesem Krieg – doch den Geruch, der aus den unauffälligen, weissen Containern westlich der umkämpften Stadt Cherson drang, den wird er nie vergessen. «Nach süsslicher Verwesung hat es gestunken. Wie wenn du ein Stück Fleisch viel zu lange an der Sonne liegen lässt», erzählt der Zürcher Videograf im Gespräch mit Blick. Seit Kriegsausbruch hat Graf insgesamt fast drei Monate in der Ukraine verbracht. Aber so nahe ist er dem Grauen dieses Krieges nie gekommen.

Totes Fleisch, verweste Körper: Genau das lagerte in den Container vor der südukrainischen Stadt, in der sich noch immer rund 20'000 russische Soldaten verschanzen und die lokale Bevölkerung terrorisieren. Die Toten sind ukrainische Soldaten, die bei der Schlacht um Cherson ums Leben kamen. Sie wurden erschossen, verbluteten, starben an ihren schweren Verletzungen.

Wenn sie das Glück hatten, von ihren Kameraden in der Hitze des Gefechts vom Schlachtfeld weggetragen zu werden, landeten sie da in diesen weissen Containern, verpackt in simplen Plastiksäcken. «Auf den Säcken standen keine Namen, nur Nummern», erzählt Stefan Graf. «Für jene, die sich um den Abtransport der Leichen kümmern müssen, ist das schlicht effizienter.»

Russen ergreifen panisch die Flucht

Die ukrainische Führung möchte lieber nicht, dass die Menschen im Land – geschweige denn in der Welt – von den weissen Containern und ihrem grausigen Inhalt erfahren. Lieber spricht sie über die beachtlichen Erfolge, die ihre Soldaten in den vergangenen Tagen gegen die vermeintliche russische Übermacht im Nordosten und Süden des Landes erzielt haben.

6000 Quadratkilometer besetztes Land – in etwa die Grösse des ganzen Kantons Bern – haben die ukrainischen Kämpfer seit Anfang September zurückerobert. Die amerikanische Denkfabrik «Institute for the Study of War» schreibt, die Ukraine habe etwa den Kampf um die nordöstliche Region Charkiw «entschieden gewonnen» und die Russen in eine «panische und unorganisierte Flucht» geschlagen. Den Wert des Kriegsgerätes, das Putins Truppen bei ihrem Abzug zurücklassen mussten, schätzt der Thinktank auf rund 700 Millionen Dollar.

Der Druck auf Moskau nimmt merklich zu. In russischen TV-Shows wird Kritik an der Führung laut. Sogar Aussenminister Sergej Lawrow (72) stellt inzwischen Verhandlungen in Aussicht. In der Ukraine herrscht derweil Euphorie, angeheizt durch Videos von jubelnden Menschen in den befreiten Gebieten und durch Fotos von brennenden russischen Flaggen. Geschichten über die weissen Container würden die gute Stimmung nur trüben.

200 tote Soldaten pro Tag

Aus taktischen Gründen veröffentlichen weder die ukrainische noch die russische Seite offizielle Statistiken über die Anzahl der gefallenen Soldaten. Moskau gab im März bekannt, bei der «Spezialoperation» in der Ukraine seien 1351 Soldaten ums Leben gekommen. Seither: Schweigen. Ein ukrainischer General meinte Ende August bei einem Veteranen-Event, dass «etwa 9000 ukrainische Soldaten» gefallen seien. Genaue Angaben: Fehlanzeige.

Geschichten über getötete Zivilisten helfen dabei, die Gegner als unmenschliche Monster darzustellen. Ukrainische Soldaten bezeichnen die russischen Kämpfer in Anlehnung an die schlachtenden Wesen aus den «Herr der Ringe»-Büchern konsequent als «Orks». Aber tote Soldaten? Die schwächen nur die Moral, scheint die ukrainische Führung zu denken. Also wird weggeschaut.

Gestorben wird trotzdem. Der Krieg verrichtet sein Werk auch abseits der Propagandascheinwerfer. Wie ein Berater von Präsident Selenski im Juni gegenüber BBC verlauten liess, seien es bis zu 200 pro Tag.

Der hohe Blutzoll, über den keiner spricht

Einer von ihnen war Vlad Sokolov (†26), Graffiti-Künstler, ein fröhlicher Mensch. Das erzählten seine Freunde dem Schweizer Videografen Stefan Graf an Sokolovs Beerdigung. Sokolov hatte sich nach dem russischen Überfall auf die Ukraine als Freiwilliger bei den ukrainischen Streitkräften gemeldet und in der Schlacht um Cherson gekämpft. Bei einem russischen Angriff wurde er von einem Granatsplitter am Hals getroffen. Er war gerade mal 26, als auch er in einem der weissen Container landete.

Aus den Containern werden die toten Soldaten in die Leichenhallen ihrer jeweiligen Wohnregionen gebracht. Sokolov kam nach Odessa, wurde gewaschen und eingesargt. Dann – so will es die Tradition – begleiteten seine Freunde und Familienangehörigen den Sarg zu Sokolovs Wohnblock in der südwestukrainischen Gemeinde Podolsk.

Grafs Videoaufnahmen zeigen, wie der Tod eines einzigen Soldaten ein ganzes Dorf trifft. Sie zeigen die Eltern des verstorbenen Soldaten, die sich fast nicht vom Sarg ihres Sohnes lösen können. Sie zeigen die Verzweiflung im Gesicht von Sokolovs Partnerin, die die Liebe ihres Lebens an den Krieg verloren hat. Sie zeigen auch den stillen Schock in den Gesichtern seiner Kameraden, die wissen: Auch mir droht jederzeit dieses Schicksal.

Und nicht zuletzt zeigen die Bilder: Es sind nicht nur amerikanische Waffen und westliche Sanktionen, die die Wende in diesem Krieg vielleicht herbeiführen können. Es sind vor allem auch junge ukrainische Leben, mit denen der Preis eines militärischen Sieges bezahlt wird.

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