Es ist fünf vor zwölf: Wenn sich die Parteien in den USA bis Mitte nächster Woche im Schuldenstreit nicht zusammenraufen, droht ein Zahlungsausfall der Regierung, der sich verheerend auch auf den Krieg in der Ukraine auswirken würde. Denn nebst der Erschütterung der USA käme es zu Schockwellen im internationalen Finanzsystem mit unabsehbaren Folgen für die globalen Handelsströme, Volkswirtschaften und politische Stabilität in der ganzen Welt.
Militärexperte Ralph D. Thiele (69) vom Institut für Strategie-, Politik-, Sicherheits- und Wirtschaftsberatung (ISPSW) in Berlin spricht dramatische Worte: «Für die Ukraine wäre eine solche Entwicklung der Anfang vom Ende.»
Die USA, welche die Ukraine bisher mit rund 75 Milliarden Dollar unterstützt haben, würden als Waffenlieferant kürzertreten müssen, wenn nicht gänzlich ausfallen. Thiele: «Aber auch viele andere bisherige Lieferanten müssten ihre bisher geplante Unterstützung für die Ukraine neu bewerten und vermutlich deutlich einschränken, wenn nicht gar einstellen.»
Auch deutscher Minister warnt
Diese Woche hatte auch der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius (63, SPD) im Bundestag gesagt: «Das Ende der Waffenlieferungen heute wäre das Ende der Ukraine morgen.» Pistorius verwies darauf, dass die Ukraine über keine eigene relevante Kriegswirtschaft verfüge und absolut von andern Staaten abhängig sei. Die USA sind der Hauptlastträger dieser outgesourcten Kriegswirtschaft, Deutschland ist mit einigem Abstand die Nummer zwei.
USA-Politologen sehen für die Ukraine bei einem Zahlungsausfall ebenfalls schwarz. James W. Davis (59) von der Uni St. Gallen sagt: «Eine Staatspleite könnte die weitere Unterstützung der Ukraine insofern gefährden, als noch nicht ausgegebene Gelder sicherlich umgeschichtet würden, um die laufenden Kosten des US-Militärs abzudecken.»
Kompromiss in letzter Sekunde?
Das Gespenst eines Zahlungsausfalls kehrt in den USA immer wieder zurück. Es ermöglicht der jeweiligen Opposition, eigene Anliegen durchzudrücken. Bisher fanden sich die beiden Fronten immer zu einem Kompromiss.
Wie es dieses Mal ausgeht, darüber scheiden sich die Geister. Marco Steenbergen (60), US-Experte an der Uni Zürich, glaubt, dass diesmal «das Risiko eines Zahlungsausfalls real ist». Steenbergen: «Es gibt Republikaner, die wahrscheinlich genauso gerne eine Wirtschaftskrise sehen würden, um ihre Chancen im Wahljahr 2024 zu verbessern.»
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James W. Davis hat Hoffnung, dass die Parteien angesichts der politischen Folgen einen Kompromiss finden. «Aber es könnte auch zu einem grossen Unfall kommen», ergänzt er. In diesem Fall würde Biden vermutlich das «unbetretene Terrain des 14. Zusatzartikels» ausprobieren und ohne die Zustimmung des Kongresses die Staatsschulden erhöhen. Inzwischen betragen die Schulden 31,4 Billionen Dollar.
Ralph Thiele hingegen ist davon überzeugt, dass die Katastrophe abgewendet wird. Thiele: «Beide politischen Parteien wollen mehrheitlich Russland in die Knie zwingen und bereiten sich zudem auf eine mögliche Auseinandersetzung mit China über Taiwan vor. Deswegen werden die beiden Kontrahenten des inneramerikanischen Finanzstreits peinlich genau darauf achten, dass es rechtzeitig zu einer Einigung kommt.»