Die russischen Truppen mussten sich Anfang September aus einem Grossteil des Charkiwer Gebiets zurückziehen. Die Frontlinie verschob sich zunächst hinter die Flüsse Oskil und Siwerskyj Donez in östlicher Richtung. Inzwischen ist die ukrainische Armee in der Region weiter auf dem Vormarsch.
Marcel Berni (34), Strategieexperte an der Militärakademie der ETH Zürich, sagt zu Blick: «Im Moment ist das Virus der Angst in vielen russischen Bodeneinheiten spürbar. Es könnte sich bei weiteren ukrainischen Erfolgen schneller ausbreiten.» Derzeit sehe er aber noch keinen Zusammenbruch der russischen Ostfront. Allerdings: «Zusammenbrüche von Armeen vorauszusagen, ist extrem schwierig.»
Ukraine meldet neue Geländegewinne
In der Nacht auf Dienstag teilte die Verwaltung der Gemeinde Borowa am östlichen Ufer des Oskil mit, die Siedlung Pisky stehe wieder unter ukrainischer Kontrolle. Auch das etwa 40 Kilometer nördlich liegende Kupjansk konnte von ukrainischen Streitkräften offenbar zurückerobert werden. Aus dem südlich angrenzenden Donezker Gebiet gibt es ebenfalls Berichte über ukrainische Geländegewinne.
Wie das US-Portal «Defense News» berichtet, konnte in letzter Zeit auch die russische Luftwaffe nichts mehr gegen den ukrainischen Vormarsch in der Ostukraine ausrichten. Dies, obwohl die Ukraine Russland in der Luft klar unterlegen ist.
Dem Bericht zufolge gelang das einerseits aufgrund eines Täuschungsmanövers, indem die Ukraine einen Grossteil der russischen Truppen im südlichen Cherson festsetzte, um dann eine überraschende Offensive im Norden zu starten. Auf der anderen Seite verteidigt die Ukraine ihren Luftraum vom Boden aus konsequent mit einer Strategie der «Luftverweigerung».
Schont Putin die Luftwaffe?
Laut Militär-Experte Berni ist es in der Tat ein Rätsel, weshalb es den Streitkräften des russischen Präsidenten Wladimir Putin (69) nicht gelungen ist, die Luftherrschaft über den Kriegsgebieten zu erlangen. «Einige Experten führen dies auf einen Ausbildungsengpass sowie schlechte Wartung der Flugzeuge zurück.» Auch scheint gemäss Berni die logistische Unterstützung mangelhaft zu sein. Ersatzteile würden aufgrund der Sanktionen zunehmend mangeln.
«Zudem fürchten sich viele Piloten vor der noch immer aktiven ukrainischen Boden-Luft-Abwehr», sagt Berni weiter. Denn nach der russischen Annexion der Krim habe die Ukraine ein starkes Luftverteidigungssystem entwickelt. «Andere Experten glauben hingegen, dass Putin seine Luftwaffe explizit schont, quasi als zweite Staffel im Falle einer Eskalation gegen die Nato.»
Erste Gepard-Panzer im Einsatz
Bei der Verteidigung des ukrainischen Luftraums könnten neu auch von Deutschland gelieferte Gepard-Panzer eine Rolle spielen. Wie «Bild» berichtet, haben ukrainische Soldaten den deutschen Flugabwehrkanonenpanzer in der Region Donezk erstmals im Kriegseinsatz gefilmt. Auf dem Selfie-Video eines Soldaten ist der Gepard zu sehen, wie er einem weiteren Flugabwehrsystem (SA-8) folgt und in Richtung Front verlegt wird.
Die Ukraine setzt den Gepard-Panzer dem Bericht zufolge sowohl gegen Luft- als auch gegen Bodenziele ein. Gegen Luftziele sei vor allem das hochmoderne Radar des Gepards nützlich. Es kann Ziele in alle Richtungen und bis 15 Kilometer Entfernung aufklären. Dies erlaubt es den ukrainischen Soldaten bei einer Vorwarnzeit von rund zwei Minuten, sich auf ankommende feindliche Kampfjets vorzubereiten, während sich diese noch ausser Schussweite befinden. Deutschland hat der Ukraine 30 Gepard-Panzer zugesagt.
Nach Referenden: Moskau wird Tatsachen schaffen
In den Gebieten Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja wurden von den Separatisten- und Besatzungsverwaltungen Referenden über eine Zugehörigkeit zu Russland abgehalten. Die Abstimmungen wurden ohne die Zustimmung der ukrainischen Regierung von Wolodimir Selenski (44) durchgeführt. International werden sie deshalb nicht anerkannt und als Scheinreferenden betrachtet. Laut russischen Nachrichtenagenturen sprachen sich nach Auszählung erster Stimmzettel rund 97 Prozent für eine Zugehörigkeit zu Russland aus.
In einem nächsten Schritt wird erwartet, dass die von Moskau eingesetzten Besatzungsverwaltungen offiziell bei Kremlchef Putin die Aufnahme in russisches Staatsgebiet beantragen. Eine Annexion der Gebiete durch Russland hätte auch militärische Folgen. «Die Blaupause dürfte hierfür die Annexion der Krim 2014 sein – auch wenn die Vorzeichen jetzt anders stehen», sagt Berni. «Ich versuche mal einen Blick in die Glaskugel: Die aktuellen Referenden werden ziemlich sicher fingiert sein und mit einem hohen Ja-Anteil enden. Das sind keine demokratischen Referenden, sondern Hauruck-Übungen in Kriegsgebieten.»
Moskau werde daraufhin Tatsachen schaffen und die Oblaste aufnehmen. Berni: «Anschliessend könnte Putin die Gebiete unter die russische Militärdoktrin stellen, die besagt, dass sie im Zweifelsfall als Teil Russlands auch mit atomaren Waffen verteidigt werden könnten.» (noo)