Am Sonntag fand die Polizei im deutschen Bundesland Rheinland-Pfalz die 12-jährige Luise F. tot auf. Zwei Mädchen, 12 und 13 Jahre, aus ihrem Bekanntenkreis haben die Tat gestanden. Sie hatten mutmasslich mit einem Messer mehrere Male auf das Mädchen eingestochen. Dirk Baier, Delinquenzforscher der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, ordnet den Fall im Interview ein.
Herr Baier, wie können 12- und 13-Jährige zu Täterinnen werden?
Dirk Baier: Es gibt einerseits Kinder, die schon mit sechs, sieben Jahren eine hohe Gewaltaffinität beziehungsweise Dissozialität aufweisen. Sie fallen auf, weil sie auf andere Kinder losgehen, Tiere quälen, stehlen, Sachbeschädigung begehen. Andererseits gibt es ganz unbescholtene Kinder, die sich in etwas verrannt haben. Denkbar ist, dass es in diesem Fall einen Konflikt gab und sich die Täterinnen in Rache- und Gewaltfantasien verrannt haben.
Das alleine führt noch nicht zu Mord.
In diesem Fall kann der Gruppenkontext eine verstärkende Rolle spielen: Die Täterinnen waren zu zweit, haben sich vielleicht gegenseitig in diesen Fantasien hochgeschaukelt und auch darin, die Tat umzusetzen. Solche Fälle gibt es.
Sind 12- und 13-Jährige in der Lage, ihre Tat zu begreifen?
Grundsätzlich ja. Doch in diesem Fall deutet einiges darauf hin, dass bei den Kindern das Reflexionsvermögen komplett ausgesetzt war.
Inwiefern?
Es wurde anscheinend häufig und intensiv auf das Opfer eingestochen. Es deutet darauf hin, dass die Mädchen in einem Rausch waren. Bei Erwachsenen sehen wir das auch, beispielsweise bei Femiziden. Doch bei Kindern ist noch wahrscheinlicher als bei Erwachsenen, dass komplett die Kontrolle verloren geht.
Ist Mord unter Kindern etwas Neues?
Es ist extrem selten, dass Kinder töten. Pro Jahr gibt es in der Schweiz zwei bis drei unter 15-Jährige, die mit Tötungsdelikten als Beschuldigte in Erscheinung treten.
Überrascht es Sie, dass es sich um Täterinnen und nicht um Täter handelt?
Ja. Je schwerer Straftaten sind, je mehr physische Gewalt ins Spiel kommt, umso seltener sind Mädchen oder Frauen die Täterinnen. In Deutschland gibt es pro Jahr zwölf minderjährige Beschuldigte von Tötungsdelikten, davon ist etwa jeder vierte weiblich.
Welche Rolle spielen Eltern bei Taten wie in Rheinland-Pfalz?
In diesem Fall ist es unklar. Generell gilt: Der Einfluss von Eltern ist gross. Im Negativen: Wenn sie Gewalt vorleben, ihre eigenen Probleme mit Gewalt lösen, eifern Kinder dem nach. Und im Positiven: Wenn Eltern schauen, mit wem ihre Kinder unterwegs sind, sich für sie interessieren, ein Kontrollverhalten haben – das ist etwas, womit Eltern verhindern können, dass ihre Kinder Normen brechen.
Kann die Gesellschaft eine solch schwere Tat verhindern?
Ein Restrisiko bleibt. Bestimmte Situationen, biografische Verläufe, wird es immer geben. Die kann man nur um den Preis verhindern, dass wir in unserem freiheitlichen System Freiheiten aufgeben. Indem man eine totalitäre Überwachung wie in China einführt.
Der Ständerat will die Verwahrung jugendlicher Straftäter ermöglichen. Was halten Sie davon?
Ich halte wenig davon. Die Forschung zeigt: Mit Strafverschärfung und härteren Strafen macht man die Gesellschaft nicht sicherer. Solche Massnahmen sind vor allem eine Reaktion auf die Wünsche der Bevölkerung. Am Ende wird es ein, zwei Fälle treffen, die dafür infrage kommen, sollte man für diese einen solchen gesetzlichen Rahmen schaffen? Ich bin skeptisch. Meine Meinung: Wir müssen alle wachsam sein, achtsam miteinander umgehen und nicht hoffen, dass harte Gesetze soziale Probleme lösen.
Was sollte jetzt mit den Täterinnen passieren?
Da muss man schauen, dass sie keine Gewaltbiografie aufbauen. Untersuchen, was dahintersteckt und darauf achten, dass man sie resozialisieren kann. Erst mal müssen sie aber fremdplatziert werden, vielleicht in einem geschlossenen Heim. Dort kann man in Ruhe abklären, ob da eine psychische Krankheit dahinter steckt.