Letzte Chance für die Schweiz
So wird der Bürgenstock zum Wendepunkt im Ukraine-Krieg

Die sogenannte «Friedenskonferenz» steht von Beginn weg unter einem schlechten Stern. Wenn die Schweiz aus ihrem Schatten tritt, könnte das Nidwaldner Wochenende allerdings eine Zeitenwende einläuten. Dazu bräuchte es nur einen mutigen Entschluss. Eine Analyse.
Publiziert: 14.06.2024 um 16:25 Uhr
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Aktualisiert: 15.06.2024 um 00:33 Uhr
Bundespräsidentin Viola Amherd und Aussenminister Ignazio Cassis hoffen, dass der Gipfel noch lange nachhallen wird.
Foto: keystone-sda.ch
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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Sepp Bircher (80), der Viehbauer aus Oberbürgen, hat eine klare Meinung zum Ukraine-Treffen, das am Wochenende vor seiner Haustür oben auf dem Bürgenstock stattfindet: «Was mich am meisten freut? Dass das alles bald wieder vorbei ist», sagt er zu Blick.

Der Bundesrat hat ganz andere Hoffnungen, was den sogenannten «Friedensgipfel» im Luxusresort anbelangt: Bundespräsidentin Viola Amherd (62) und ihre Kollegen hoffen, dass von ihrem Gipfel möglichst viel hängenbleibt, dass er bestenfalls sogar ein rasches Ende des Krieges herbeiführt. Doch die Schweiz ist drauf und dran, mit dem Gipfel ihren Ruf als diplomatische Macht zu verspielen. Sie hat nur eine Chance, dass das geopolitische Tête-à-Tête auf dem Bürgenstock dieses Wochenende nicht zum Super-Flop wird.

Das Treffen steht von Anfang an unter einem schlechten Stern: US-Präsident Joe Biden (81), den man als Stargast hätte willkommen heissen wollen, geht lieber in Kalifornien auf Spendengelder-Jagd, als sich in Nidwalden um den Weltfrieden zu kümmern. Gewichtige Stimmen wie die Türkei, Brasilien, China, Südafrika oder Saudi-Arabien fehlen am runden Tisch hoch über dem Vierwaldstättersee. Russland hat man – zurecht – gar nicht erst eingeladen, weil die Ukraine Gespräche mit Wladimir Putin (71) vor der Erfüllung ihres Zehn-Punkte-Plans kategorisch ausschliesst.

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Am Ukraine-Gipfel auf dem Bürgenstock sollen drei der zehn Forderungen des ukrainischen Friedensplanes besprochen werden.
Foto: keystone-sda.ch

Um eben diese zehn Forderungen hätte es am Friedensgipfel ursprünglich gehen sollen. Die wichtigsten beiden – den Abzug aller russischen Streitkräfte aus dem gesamten ukrainischen Territorium und die Einrichtung eines Sondertribunals für Putin und all die anderen russischen Kriegsverbrecher – stehen aber nicht auf dem Bürgenstock-Menü.

Die Schweiz steht im Abseits

Die Runde der Gleichgesinnten bespricht lediglich die Punkte nukleare Sicherheit, Nahrungsmittelsicherheit sowie die Rückkehr ukrainischer Kriegsgefangener und nach Russland entführter Kinder. Das sind zweifelsohne extrem wichtige Themen. Das bestenfalls zu erwartende Communiqué zum Abschluss des Gipfels wird an der bitteren Realität in der kriegsgeschundenen Ukraine aber ganz genau gar nichts ändern.

Was die Ukraine braucht, sind nach wie vor Waffen, Munition und finanzielle Unterstützung, um den wirtschaftlichen Kollaps zu verhindern. Das zeigte Selenskis Freude über das neue Sicherheitsabkommen mit Amerika, das er und Joe Biden Mitte Woche am Treffen der mächtigen G7-Staaten in Italien unterzeichnet haben und das die militärische Zusammenarbeit zwischen Kiew und Washington für vorläufig zehn Jahre sichern soll.

Und das zeigte sich zu Beginn der Woche auch bei der Wiederaufbaukonferenz in Berlin. Die Weltbank schätzt, dass die Wiederherrichtung des kaputtgebombten Landes mindestens 486 Milliarden Dollar kosten wird. Einen grossen Zustupf soll die Ukraine von den mächtigen G7-Staaten erhalten: Sie wollen die Gewinne der eingefrorenen russischen Vermögen (schätzungsweise 50 Milliarden Dollar) der Ukraine als Darlehen zukommen lassen. Die Schweiz ist nicht bereit, nachzuziehen. 

Zeit für einen neuen Rütli-Schwur

Mit dem Friedensgipfel versucht sich die punkto Ukraine zusehends im Abseits stehende Eidgenossenschaft ein letztes Mal ins rechte Licht zu rücken. 4000 Soldaten hat man zum Schutz der illustren Gästeschar aufgeboten – und gleichzeitig noch immer keinen einzigen Helm und keine einzige Patrone an die Ukraine geliefert.

Man hüllt sich weiter in den Mantel der Neutralität und blendet den Ruf der freien Welt nach einem fundamentalen Überdenken unserer Aussenpolitik angesichts der aufflammenden russischen Tyrannei erfolgreich aus.

Dabei wäre jetzt der perfekte Zeitpunkt, um sich das Wirken der helvetischen Ahnen in Erinnerung zu rufen. Unweit des Bürgenstocks auf einer steilen Wiese am Urnersee kamen die Eidgenossen schon einmal zu einer Friedenskonferenz zusammen und schworen sich «im Hinblick auf die Arglist der Zeit … Beistand, Rat und Förderung mit Leib und Gut … nach ihrem ganzen Vermögen gegen alle und jeden, die ihnen Gewalt oder Unrecht antun» – und zwar explizit «innerhalb ihrer Täler und ausserhalb».

1291 war das. 2024 ist die «Arglist der Zeit» nicht weniger geworden. Ein neuer Rütlischwur täte not. Die Sicherheit unserer Talschaften wird vom russischen Regime mit seinem kaltblütigen Meucheln im Osten und seinen unermüdlichen Vernichtungsdrohungen gegen den Westen massiv gefährdet. Den ukrainischen Kämpfern, die für uns die Drecksarbeit übernehmen, gebührt mehr Ehre als ein lahmes Communiqué, verlesen im Presseraum des Luxusresorts.

Abkehr von der starren Neutralität

Die Schweiz müsste die Zäsur wagen und vor versammelter internationaler Gästeschar auf dem Bürgenstock die Abkehr von der starren Neutralität verkünden. Indirekte Waffenlieferungen und eine Aufstockung der wirtschaftlichen Hilfe (etwa durch den Einsatz der hierzulande eingefrorenen Russenvermögen) wären ein guter Start. Wagt die Schweiz den Schritt und legt sie in Nidwalden die Schalter um, dann bleibt der Bürgenstock-Gipfel womöglich für immer als Wendepunkt im Ukraine-Krieg in Erinnerung.

Bleibt es beim Communiqué zu den drei Friedensplan-Punkten, dann wird Bauer Sepp Birchers Hoffnung rasch wahr und «alles ist bald wieder vorbei». Nur der Krieg nicht.

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