Seit gestern ist die Rentenreform beschlossene Sache: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (45) hat seine Unterschrift unter das seit Monaten heftigst umstrittene Gesetz gesetzt. Stunden zuvor hatte der Verfassungsrat das Vorhaben in seinen Grundzügen durchgewinkt und zugleich Pläne für eine Volksabstimmung für unzulässig erklärt.
Mit einem Referendum hatten Reformgegner versucht, das Renteneintrittsalter doch noch auf 62 Jahre zu deckeln. In Paris, Nizza, Nantes und Rennes sowie weiteren Städten kam es danach abermals zu Protesten. Fotos zeigten brennende Mülltonnen, etwa vor dem Pariser Rathaus. Allein in der Hauptstadt wurden am Freitagabend Hunderte Demonstranten festgenommen. Macron ist isoliert, das Parlament geschwächt. Mit der Reform brachte seine Regierung die Mehrheit der Bürger gegen sich auf. Die populistische Linke stürzte mit persönlichen Angriffen und einer konfrontativen Strategie die Nationalversammlung ins Chaos.
Würde jetzt gewählt, wäre Le Pen an der Spitze
Nur eine gewinnt. Dreimal hat Marine Le Pen (54) versucht, Präsidentin zu werden, dreimal hat sie verloren. Doch seit den Rentenprotesten schnellt die Beliebtheitsskala der Fraktionschefin des Rassemblement National in die Höhe.
Würden die Präsidentschaftswahlen 2022 heute wiederholt, Le Pen läge in der ersten Runde einsam an der Spitze. Laut Umfragen würde sie mit 31 Prozent der Stimmen locker an Macrons Partei Renaissance (23 Prozent) vorbeiziehen, genauso wie an der von Jean-Luc Mélenchon (71) gegründeten Linksunion Nupes (18,5 Prozent). Im zweiten Wahlgang ginge sie mit 55 Prozent der Stimmen gegen Macron (45 Prozent) als Siegerin hervor. Eine Mehrheit der Befragten ist der Meinung, dass Le Pen «den Sorgen der Franzosen nahesteht» und «an demokratischen Werten festhält». Bei den genannten Punkten hat sie seit 2022 zugelegt.
«Erstklassige politische Täuschung»
Für ihren Erfolg muss Le Pen nicht einmal Engagement zeigen. Je weniger sie sich zu Wort meldet, desto besser: Obwohl sie gegen die Reform ist, nahm sie weder an Demonstrationen teil noch eine führende Rolle in der Opposition ein. Sie zeigte sich auffällig diskret. Wer schweigt, kann sich nicht mit Inkompetenz blamieren. «Le Pen führt eine erstklassige politische Täuschung durch. Sie ist die Meisterin im Daumen drehen und braucht nur die Früchte der Fehler Macrons einzuheimsen», sagt Gilbert Casasus (66), emeritierter Professor für Europastudien und Frankreich-Kenner, zu SonntagsBlick.
Ministerpräsidentin Élisabeth Borne (61) drückte die Reform mit dem Verfassungsartikel 49.3 durch. Damit kann ein Gesetz ohne Abstimmung beschlossen werden. «Möglich, dass die Reform ökonomisch notwendig ist, aber mit seiner Art der Umsetzung bietet Macron der extremen Rechten eine weitere Steilvorlage», meint Casasus. Nach einer jahrelangen Strategie der sanfteren Töne, sozialpolitischen Vorschlägen, die zwar nicht finanzierbar, aber beliebt sind, und Inszenierung als Büsi-Mami, flösst Le Pen keine Angst mehr ein. Es zeichnet sich ein Ende der «Republikanischen Front» gegen die Partei ab. «Doch deren Programm beinhaltet weiterhin dieselben Pfeiler», warnt Casasus.
Die Linke als Alternative? Keine Chance
Die nächsten Wahlen stehen 2027 an. Könnte Le Pen die künftige Präsidentin werden? «Vielleicht, denn eine ernst zu nehmende Alternative gibt es bisher nicht», so Gilbert Casasus. Vieles hänge von der Linken ab, die ihre Glaubwürdigkeit wiedererlangen müsse. «Davon ist sie noch weit entfernt.»
Das Rentengesetz soll nun ab September wirksam werden. Gewerkschaften und Opposition rufen für den 1. Mai zu neuen Massendemonstrationen auf. Le Pen hat bereits angekündigt, sie wolle die Reform zurückzunehmen, sollte sie an die Macht kommen.