Krieg, Pandemie, gescheiterter Brexit – Krisen schweissen Staaten zusammen und lassen EU-Kritiker verstummen
Neue Liebe für Brüssel

Die katastrophale Bilanz nach drei Jahren Brexit lässt EU-Kritiker in andern europäischen Ländern verstummen. Wir zeigen, was aus Italexit, Frexit, Öxit und weiteren Exit-Bewegungen geworden ist.
Publiziert: 05.02.2023 um 00:46 Uhr
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Aktualisiert: 05.02.2023 um 13:13 Uhr
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Annäherung in Rom: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (l.) und die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni.
Foto: IMAGO/ZUMA Wire
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Guido FelderAusland-Redaktor

Das Resultat des Brexit-Referendums von 2016 hatte den Anti-EU-Stimmen in vielen andern Ländern Auftrieb gegeben. Nicht nur die rechte Marine Le Pen (54) vom damaligen Front National stellte in Frankreich ein Referendum über einen «Frexit» in Aussicht. So versprachen unter anderem auch in Österreich, Dänemark und Tschechien Wahlkandidaten, dass sie bei einem Sieg einen EU-Austritt anpeilen würden.

Heute, drei Jahre nach dem Austritt Grossbritanniens am 31. Januar 2020, sind diese Stimmen leiser geworden oder sogar ganz verstummt. Denn die Brexit-Bilanz ist nicht nur ernüchternd, sondern katastrophal. Statt in ein versprochenes «goldenes Zeitalter» zu gleiten, ist Grossbritannien in eine tiefe Krise gestürzt.

Es herrscht Rezession. Viele Briten können die Rechnung für Strom und Heizung nicht mehr bezahlen, sogar fürs Essen reicht es teilweise nicht mehr. Massenweise gehen Unternehmen in Konkurs. Gilbert Casasus (67), emeritierter Professor für Europastudien, sagt: «Der Brexit samt seiner Konsequenzen wirkt wie ein Schreckgespenst bei Ländern, die kurzzeitig mit einem Ausstieg geliebäugelt hatten.»

Krisen schweissen zusammen

Der Brexit ist aber nicht der einzige Grund, warum die Anti-EU-Bewegungen verstummt sind. Es sind Krisen, welche die Staaten Europas einen. «Der Krieg in der Ukraine hat – mit Ausnahme Ungarns – die EU-Mitgliedstaaten zusammengeschweisst.»

Die andere Krise sei die Pandemie. «Der Corona-Wiederaufbaufonds der EU kommt vielen verschuldeten Ländern und Krisenstaaten stark entgegen», meint Casasus. Besonders Italien profitiere. «Die neu gewählte Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat sich von ihrer Anti-EU-Rhetorik verabschiedet, um für ihr Land die beinahe 200 Milliarden Euro aus dem Hilfsfonds zu kassieren.»

Generell hätten die sich im Aufwind befindenden rechten und rechtskonservativen Parteien gemerkt, dass eine Mehrheit hinter der EU stehe. «Viele lehnen inzwischen einen Austritt aus wahlstrategischen Gründen ab, um ihre oft ältere Wählerschaft nicht zu verunsichern.» Typisches Beispiel: Marine Le Pen, die 2027 in Frankreich die Nachfolge von Präsident Emmanuel Macron (45) antreten möchte.

In diesen Ländern war ein EU-Austritt ein grosses Thema:

1

Italexit

Im Rahmen einer Verfassungsänderung wurde ein Austritt 2016 breit diskutiert. Als bei Umfragen 2020 nur 39 Prozent der Italiener der EU vertrauten, gründete Senator Gianluigi Paragone (51) von der Fünf-Sterne-Bewegung die Partei Italexit.

2

Frexit

Bei den Präsidentschaftswahlen 2017 plädierte die rechte Marine Le Pen (54) für einen Austritt Frankreichs und versprach bei einem Wahlsieg ein Referendum. Auch Linke forderten einen Austritt. Nach dem Sieg von Emmanuel Macron (45) hat Le Pen ihre Forderung fallen lassen.

3

Polexit

Zwischen Polen und der EU gibt es viele Streitpunkte. Nachdem Polen mehrmals gegen EU-Recht verstossen hatte, verhängte Brüssel eine tägliche Geldstrafe von einer Million Euro. Dies führte zu einer Diskussion über einen Austritt.

4

Ungarexit

Auch wenn Ministerpräsident Viktor Orban (59) immer wieder gegen die EU poltert, stand ein Austritt Ungarns nie wirklich zur Diskussion. Der Anstoss kam vielmehr von aussen: Luxemburgs Aussenminister Jean Asselborn (73) forderte den Ausschluss, wenn Ungarn weiterhin hart gegen Flüchtlinge vorgehen und die Pressefreiheit und Unabhängigkeit der Justiz unterdrücken sollte.

5

Tschexit/Czexit

2016 scheiterte ein Antrag von Rechtspopulisten in Tschechien, eine Austrittsabstimmung aufzugleisen. Auch heute noch bemühen sich diese Kreise um ein Referendum. Allerdings wurde Ende Januar mit Petr Pavel (61) ein Präsident gewählt, der klarer EU-Befürworter ist und der sich gegen den russlandfreundlichen Andrej Babis (68) durchgesetzt hat.

6

Öxit

In Österreich sagte der unterlegene FPÖ-Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer (51) im Jahr 2016, dass er sich eine Austrittsabstimmung vorstellen könnte, falls die Türkei in die EU eintrete oder die EU noch zentralistischer werden würde.

7

Grexit

Während der Finanzkrise sprach man in der EU davon, Griechenland während mindestens fünf Jahren aus der EU zu verbannen, damit sie nicht selber in den finanziellen Abwärtsstrudel geraten sollte. Der Grexit wurde vor allem in den Jahren 2014/15 diskutiert.

8

Nexit

Der Rechtspopulist Geert Wilders (59) versprach den Niederländern 2017 ein Austrittsreferendum, falls er Ministerpräsident werden sollte. Er scheiterte. Eine Umfrage 2016 hatte ergeben, dass 48 Prozent für einen Austritt und 45 Prozent für einen Verbleib gestimmt hätten.

9

Danexit

Rechtspopulisten hatten schon im Vorfeld der britischen Abstimmung ein Referendum über einen Austritt Dänemarks gefordert. Morten Messerschmidt (42), Mitglied der rechen Folkeparti, prognostizierte 2020, dass sein Land die EU wegen des «Brexit-Erfolgs» innerhalb von zehn Jahren verlassen würde.

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