Krieg am Fest der Liebe
In Jesus Geburtsstadt liegt das Krippenkind unter Schutt

Keine Pilger, kein Weihnachtsbaum und ein Kinderspital, das zu aussergewöhnlichen Mitteln greifen muss: Die Weihnachtstage sind dieses Jahr alles andere als feierlich in Bethlehem. 70 Prozent der Menschen in der Stadt stehen vor dem Nichts.
Publiziert: 23.12.2023 um 00:09 Uhr
|
Aktualisiert: 23.12.2023 um 13:59 Uhr
Schutthaufen statt Weihnachtskrippe: Der Kirchenschmuck in Bethlehem ist dieses Jahr hochpolitisch.
Foto: Getty Images
RMS_Portrait_AUTOR_823.JPG
Samuel SchumacherAusland-Reporter

Das wird eine sehr stille Nacht in Bethlehem. Keine Pilger, die stundenlang Schlange stehen, um die Geburtsstelle von Jesus für ein paar Sekunden bewundern zu können. Kein künstlicher Tannenbaum, der – wie sonst jedes Jahr – mit Weihnachtslämpchen den historischen Platz vor der Geburtskirche erleuchtet. Keine Glocken, die durch die alten Gemäuer der palästinensischen Stadt neben Jerusalem hallen.

Stattdessen: Stille. Trauer. Wut. «Wir können jetzt doch nicht feiern, wenn drüben in Gaza unser Volk so sehr leiden muss», sagt Michel Awad (44) am Telefon zu Blick. Der Christ aus dem Bethlehemer Vorort Beit Sahour betreibt eine kleine Reiseagentur im Heiligen Land und eröffnete mit seinem Bruder vor kurzem eine kleine Brauerei ganz nah von der Geburtsstelle Jesu. Doch die «Nativity Beer»-Zapfhähne bleiben trocken, Touristen gibt es keine. Und die Bewohner Bethlehems getrauen sich nachts nicht mehr vor die Tür wegen der israelischen Soldaten, die durch die Strassen patrouillieren.

1/12
Dieses Jahr ist Bethlehem faktisch menschenleer. Nur das religiöse Personal der Kirchen ist vor Ort.
Foto: keystone-sda.ch

Das Freudenfest zum Jahresende: Für Bethlehem ist das eher eine Trauerfeier. Das zeigt sich nirgendwo so deutlich wie im Caritas Kinderspital, wo Babys und Kinder dank Schweizer Spendengeldern seit 1978 medizinische Hilfe erhalten.

Schutthaufen statt Weihnachtskrippe

«Wir haben eine Hotline eingerichtet, über die unser Ärzteteam zu helfen versucht», erzählt Shireen Khamis, die Sprecherin des Kinderspitals. «Kurz nach Ausbruch des Krieges war es kaum möglich, unser Spital zu erreichen.» Bethlehem, auch zu Friedenszeiten von mehreren Seiten von der neun Meter hohen israelischen Mauer umstellt, ist von der Umwelt abgeschnitten. Der Weg ins Spital, wo die Ärmsten gratis Hilfe erhalten, ist für viele zu lang und zu gefährlich geworden.

2022 haben die 250 Angestellten im Spital insgesamt 47'356 Kinder behandelt. Der Anteil derer, die den bescheidenen Selbstbehalt für Spitalbehandlungen nicht bezahlen können, dürfte dieses Jahr noch einmal steigen, sagt Shireen Khamis. Noch reichen die Medikamente, noch reichen die Finanzen. «Wenn der Krieg aber noch monatelang so weitergeht, wird es knapp», sagt die Palästinenserin.

Auf Weihnachtsschmuck und Feierlichkeiten verzichtet das Kinderspital. Keine Lieder, keine Deko, keine Aufführungen. Nur der Gottesdienst. Und auch der ist in diesem Jahr in Bethlehem völlig anders als sonst.

Zum Beispiel in der evangelisch-lutherischen Kirche von Pfarrer Munther Isaac. Statt einer traditionellen Krippe liegt neben seinem Altar ein Haufen Schutt und Geröll. Mitten drin ein Jesus-Kind, eingehüllt in eine Kufiya, den Palästinenserschal.

Bethlehem droht der Bankrott

«Während die Welt Weihnachten feiert, werden in Jesu’ Heimat Kinder getötet, Häuser zerstört und Familien vertrieben», schreibt Pfarrer Munther Isaac auf seinem X-Profil. «Wir können nicht feiern, wenn Kinder massakriert werden.» Seine diesjährige Krippe solle an all dieses Leid erinnern. Und daran, dass Jesus selbst für jene in allergrösster Not da sei.

Bethlehem, die in den letzten Jahrzehnten auf knapp 60'000 Bewohner angewachsene Siedlung am Rande des palästinensischen Westjordanlandes, hat viele schwierige Weihnachtsfeiern erlebt. Während des ersten Palästinenseraufstands Ende der 1980er Jahre beäugten israelische Scharfschützen das Geschehen rund um die Geburtskirche. Während Covid fielen die fast zwei Millionen internationalen Besucher weg, die jährlich nach Bethlehem strömen und von denen rund drei Viertel der Stadtbevölkerung finanziell abhängig sind.

«So hart wie jetzt aber wars schon lange nicht mehr, die Hoffnung zu behalten», sagt der Reise-Unternehmer und Brauer Michel Awad. Mehr als 70 Hotels mussten temporär schliessen, rund 6000 Angestellte stehen auf der Strasse. «Die Wirtschaft ist im freien Fall. Auch wenn das natürlich nichts ist im Vergleich zum Leiden unseres Volkes in Gaza», sagte Bethlehems Bürgermeister Hana Haniyeh zur Nachrichtenagentur AP.

«Wir möchten uns nicht alleine fühlen»

Auf Hunderte Millionen schätzt das palästinensische Tourismus-Ministerium den Verlust, den man bis Ende Jahr wegen des Krieges hinnehmen müsse. «Das grösste Problem ist, dass wir nicht wissen, wann die Touristen wieder zurückkommen», sagt Michel Awad. «All die Raketen, all die Gewalt führt dazu, dass die gesamte Region als sehr unsicher wahrgenommen wird. Dabei sind wir gastfreundliche Menschen.»

Eine Mitternachtsmesse wird Bethlehem in der grossen Geburtskirche durchführen. Eine stille Feier, um für den Frieden zu beten. Und noch um etwas bittet Shireen Khamis vom Kinderspital in Bethlehem: «Bitte vergesst uns nicht.»

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Liebe Leserin, Lieber Leser
Der Kommentarbereich von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast. Noch kein Blick+-Abo? Finde unsere Angebote hier:
Hast du bereits ein Abo?