Am vergangenen Donnerstag rammten Orcas das Schweizer Segelboot «Champagne» von Werner Schaufelberger (72). «Wir hatten schon ein mulmiges Gefühl», sagt der Skipper zu Blick. Durch den Angriff entstanden Löcher, das Segelboot kenterte und ging schliesslich unter.
«Es waren zwei kleinere und ein grösserer Orca. Die beiden Kleinen rüttelten hinten am Ruder. Der Grosse nahm immer wieder Anlauf und rammte das Schiff mit voller Wucht», beschreibt Schaufelberger den Angriff.
Solche Angriffe häufen sich. Seit 2020 wurden über 100 Orca-Angriffe auf Segelboote registriert. «Der Orca hat seine Verhaltensweise geändert», weiss Christoph Winterhalter (62), Präsident des HOZ (Hochseezentrum International Schweiz).
Während der Attacke auf Schaufelbergers Yacht war Winterhalter im Backoffice des HOZ, das rund um die Uhr besetzt ist und in Notfällen berät. Er war während des Angriffs in Kontakt mit Schaufelberger.
Laut Winterhalter weisen die Angriffe immer das gleiche Muster auf: Stets wird das Ruder beschädigt. Doch «Champagne» ist erst die dritte Yacht, die in Folge des Angriffs kentert.
Weshalb die Tiere plötzlich Boote angreifen, ist unklar. «Wir alle tappen im Dunkeln, niemand weiss, warum die Tiere seit 2020 angreifen», sagt Winterhalter zu Blick. Es gibt aber Theorien, die für ihn plausibel klingen.
Mutter-Orca brachte Jungtieren Angriff bei
«Die Technik an Bord hat sich in den letzten dreissig Jahren weiterentwickelt. Echolot, Radar, Funkgeräte, Smartphones, Tablets – das könnte die Schwertwale nervös machen», sagt der erfahrene Seefahrer.
Orcas gehören zur Familie der Delfine, zählen damit zu den intelligentesten Tieren der Welt. Sie verfügen über ein ausgezeichnetes Kommunikationssystem. Und das könnte durch den Funk oder andere hochfrequente Geräusche gestört werden.
Die Tiere lernen indes auch voneinander. Das Muttertier hat laut Skipper Schaufelberger den zwei Jungtieren am vergangenen Donnerstag gezeigt, wie man das Ruder oder den Kiel angreift. Danach haben die beiden Kleinen es ihr nachgemacht. «Das hat nichts mit Spielerei zu tun», ist Winterhalter sicher. «Die Orcas demonstrieren ihre Macht und zeigen ihre Kraft gegenüber den Booten.»
Bei fast jedem der hundert Angriffe wurde das Ruder verbogen, abgerissen oder anders beschädigt. Das liege laut Winterhalter daran, dass von unten nur Kiel und Ruder sichtbar sind. Für die Orcas ist das Ruder ein leichtes Angriffsziel.
Schlechtes Erlebnis mit Menschen
«Die Wahrheit ist, dass die Orcas eine Situation mit Menschen hatten, die ihnen nicht gefallen hat», sagt Meeresbiologin Eva Chiara Carpinelli zu «Welt». Sie sammelt die Daten der Angriffe an der Küste von Gibraltar. «Dass die Tiere schlechte Erfahrungen mit den Menschen gemacht haben, scheint eine glaubhafte Hypothese», stimmt Winterhalter zu. «Wir verstehen die Tiere nicht und verhalten uns vielleicht in solchen Situationen falsch», so der Experte.
Gefahr für den Menschen besteht indes kaum. Es gibt lediglich einen dokumentierten Fall einer Orca-Attacke aus dem Jahr 1972. Der Surfer Hans Kretschmer wurde angegriffen, überlebte aber. Seglern in den betroffenen Regionen rät Winterhalter, sich gut zu informieren, was sie im Falle eines Angriffs tun sollten. «Sofort den Motor abstellen, die Tiere bloss nicht reizen, ruhig verhalten, Licht aus», empfiehlt Winterhalter. Er glaubt, dass die Angriffe in nächster Zeit weiter steigen können.
«Eigentlich bieten wir einen Törn von Teneriffa über Gibraltar nach Palma an zum Sammeln internationaler Seemeilen für den Schweizer Hochseeschein», so Winterhalter. Doch das sei ihm jetzt zu heikel. «Bis die Ursache für die Orca-Angriffe geklärt ist, werde ich diese Route auf ehemals bewährten Kursen nicht mehr anbieten», so der Präsident. Denn: «Sicherheit geht vor.»