Witali Klitschko (50) kämpft derzeit seinen grössten Kampf. Der ehemalige Boxweltmeister im Schwergewicht ist Bürgermeister der ukrainischen Hauptstadt Kiew und steht an der Front, um sein Land zu verteidigen. Die «SonntagsZeitung» hat mit ihm gesprochen.
«Die Tage sind endlos», sagt Klitschko, auf seinen Alltag angesprochen. Man sei nonstop an der Arbeit, «Tag und Nacht kommen die Hilferufe, ständig müssen wir Menschen in Sicherheit bringen, Leben retten, Essen und Medikamente organisieren.» Nichts sei planbar, jede Sekunde könne der Alarm losgehen. Er habe jegliches Zeitgefühl verloren.
«Unsere Soldaten kämpfen nicht für Geld»
Trotzdem gelang es Putin bisher nicht, Kiew einzunehmen. Im Gegenteil: Am Samstag meldete das ukrainische Verteidigungsministerium, die Russen hätten sich aus der ganzen Region Kiew zurückgezogen. Dass es die Gegner so schwer gehabt hätten in seiner Stadt, habe Klitschko nicht überrascht, sagt er. «Unsere Soldaten, unsere Patrioten kämpfen nicht für Geld wie die russischen Soldaten. Die ukrainischen Soldaten verteidigen unsere Familien, unsere Kinder, unser Land und unsere Zukunft. Entscheidend sind nicht die Waffen, entscheidend ist die Moral einer Armee.»
Schon vergangen Dienstag meldeten die Russen, sich aus Kiew zurückgezogen zu haben. Klitschko sagt, das sei eine Lüge gewesen. Am Donnerstag seien zwei Raketen in Kiew eingeschlagen, dabei seien Menschen gestorben und ein Lagerhaus mit Lebensmitteln zerstört worden. «Ich spüre die ständigen Explosionen. Jede Stunde, kaum 20 Kilometer vom Zentrum entfernt. Es war eine weitere grosse Lüge! Die Vergangenheit hat uns gelehrt: Trau dem Russen niemals!»
«Schweiz, stehen Sie uns bei»
Klitschko sagt, es würden Hilfsgüter an Frauen und ältere Menschen verteilt. Die Supermärkte würden zwar noch funktionieren, aber es sei gefährlich, auf die Strasse zu gehen, weil sich dort russische Scharfschützen herumtreiben.
Die Versorgung beschäftigt Klitschko sehr. Sie scheint das Hauptproblem der Ukrainer zu sein. Weil die Russen die Infrastruktur zerstört haben, sei die Logistik zusammengebrochen, sagt der Ex-Boxer. Man habe noch Reserven für ein paar Wochen. Aber im Osten der Ukraine würde sich eine «riesige humanitäre Katastrophe abzeichnen». Die Ukraine brauche darum Reserven an Lebensmitteln und Medikamenten: «Wir sind weiter auf jede Hilfe angewiesen». Dabei meint er auch die Schweiz: «Ich grüsse die Schweiz. Und ich habe eine Botschaft an die Schweizer: Bitte helfen Sie der Ukraine. Stehen Sie uns bei. Zusammen können wir es schaffen, den Krieg in Europa zu beenden. Danke für Ihre Solidarität.»
Zu den Schweizer Sanktionen sagt er: «Ich möchte mich für die Unterstützung bedanken. Aber: Wir Ukrainer kämpfen auch für euch, wir geben unser Leben auch für eure demokratischen Werte.»
«Wir sehen kein Licht am Ende des Tunnels»
Klitschko weist zudem darauf hin, dass jeder, der weiterhin mit Russland geschäfte, Blut an den Händen habe, da alles Geld in die Armee fliesse. Es gebe viele Politiker, die auf zwei Hochzeiten tanzten, «die den Krieg verurteilen, aber nicht zu harten Sanktionen gegen Russland bereit sind».
Betreffend eines möglichen Kriegs-Endes sagte Klitschko: «Wir sehen kein Licht am Ende des Tunnels. Wir alle hoffen auf eine diplomatische Lösung dieses Konflikts. Aber wir können erst dann Kompromisse finden, wenn der letzte russische Soldat unser Land verlassen hat.» (vof)