Bevor Nasser Mohammed (35) eine arrangierte Ehe hätte eingehen müssen, hat er in den USA politisches Asyl beantragt. Es war eine Flucht. Der Schritt in ein Leben, das er endlich führen wollte.
Nasser Mohammed ist Arzt – und homosexuell. Das allein wäre keine Erwähnung wert, aber Nas, wie er sich nennt, kommt ursprünglich aus Katar. Seine Herkunft und seine sexuelle Orientierung sind nicht miteinander vereinbar. Also bricht er während seines Medizinstudiums in den USA mit seinen Eltern und damit mit seiner Heimat. Heute lebt er als schwuler Mann frei in San Francisco.
In drei Wochen wird in Katar die Fussball-Weltmeisterschaft angepfiffen. Erstmals findet das wichtigste Fussballturnier im Winter statt – und in einem arabischen Land. Einem Land, das zwei Gesichter hat, der Welt aber nur eines davon zeigen will: glitzernde Wolkenkratzer-Fassaden, Wohlstand, Fortschrittlichkeit. Wer hinter diese Fassaden blickt, sieht weniger Beeindruckendes: Hunderttausende Arbeitsmigranten, Menschenrechtsverletzungen, totale Überwachung. Blick-TV-Reporterin Ramona Schelbert und Blick-Reporter Tobias Ochsenbein berichten daher diese Woche über den Wüstenstaat, auf den bald die ganze Welt schaut.
In drei Wochen wird in Katar die Fussball-Weltmeisterschaft angepfiffen. Erstmals findet das wichtigste Fussballturnier im Winter statt – und in einem arabischen Land. Einem Land, das zwei Gesichter hat, der Welt aber nur eines davon zeigen will: glitzernde Wolkenkratzer-Fassaden, Wohlstand, Fortschrittlichkeit. Wer hinter diese Fassaden blickt, sieht weniger Beeindruckendes: Hunderttausende Arbeitsmigranten, Menschenrechtsverletzungen, totale Überwachung. Blick-TV-Reporterin Ramona Schelbert und Blick-Reporter Tobias Ochsenbein berichten daher diese Woche über den Wüstenstaat, auf den bald die ganze Welt schaut.
«Ich bin in einer sehr konservativen muslimischen Familie aufgewachsen. Als Teenager merkte ich, dass ich anders war als die anderen Jungen in meinem Alter. Bloss: Ich wusste nicht, dass ich schwul bin. Denn ich hatte keinen Zugang zum Internet oder zu westlichen Medien, konnte mich nicht über meine Befindlichkeit informieren. In der Schule wurde nie über LGBTQ-Themen gesprochen», erzählt er während eines Online-Interviews.
Erster LGBTQ-Mensch in Katar, der sich geoutet hat
Das Emirat Qatar hat als Religion den wahhabitischen Islam in der Verfassung verankert und praktiziert die Gesetze nach der Scharia. Homosexualität ist im Koran im Prinzip nicht verboten, es gibt aber eine Passage, die Unzucht verurteilt. Viele konservative Länder nutzen diesen Teil, um LGBTQ-Menschen zu verfolgen. Auch Katar.
«Ich bin der erste LGBTQ-Katarer, der sich öffentlich geoutet hat. Dafür musste ich bereit sein, alles zu verlieren – einschliesslich meiner Familie und Freunde», erzählt Nas. Seine Motivation: auf die Situation der LGBTQ-Community in seinem Heimatland aufmerksam machen. «Sie haben Angst. Sie müssen sich und ihre Gefühle verstecken.»
Es gebe systematische Bemühungen der katarischen Behörden, LGBTQ-Personen zu finden und einzusperren, sagt Nas. «Sie können jederzeit auftauchen und dich abführen – sogar während eines Dates im Restaurant.» Und: «Sie bringen dich an geheime Orte, foltern dich psychisch und physisch und stecken dich in Umerziehungsprogramme.» All das hat er nicht selbst erlebt, aber er kennt Leute, die das in Katar durchmachen mussten. Seit seinem Outing ist er zu einem Sprachrohr der katarischen LGBTQ-Community geworden. Weil er in Freiheit lebt und über alles sprechen kann.
Tatsächlich ist es praktisch unmöglich, in Katar selbst mit Betroffenen zu sprechen. Es gibt Dating-Apps, diese lassen sich nur über sichere Verbindungen nutzen. Zudem, warnt Nas, sei auch die Polizei auf solchen aktiv – mit Fake-Profilen. Offizielle Anfragen beim katarischen Supreme Committee (SC) – es ist zuständig für die Überwachung aller Bau- und Infrastrukturprojekte für die Fussball-WM und erste offizielle Anlaufstelle für Medienschaffende – laufen ins Leere. «Wir können leider nicht weiterhelfen mit einem Kontakt aus der LGBTQ-Community», heisst es.
Zuneigungen zeigen in der Öffentlichkeit ist verboten
Treffen mit Fatma al Nuaimi (39), Mediensprecherin des SC. Sie weicht dem kritischen Thema aus: «Wir haben immer gesagt, dass alle Menschen willkommen sind in Katar – ungeachtet ihrer Herkunft, Religion oder sexuellen Orientierung. Wir sind ein Schmelztiegel für alle Kulturen», sagt sie. Aber auch: «Wenn wir reisen, respektieren wir andere Kulturen und dasselbe erwarten wir von den Touristen.»
Zuneigung öffentlich zu zeigen, ist verboten, egal ob von Mitgliedern der LGBTQ-Community oder von Heterosexuellen. Tatsächlich sieht man in Doha kaum Händchen haltende oder sich küssende Paare in der Öffentlichkeit.
Wie Nasser Mohammed versuchen auch internationale Menschenrechtsorganisationen im Zuge der bevorstehenden Fussball-WM, das weltweite Interesse an Katar zu nutzen und Druck für eine Verbesserung der Menschenrechte zu machen. Im Zentrum stehen dabei auch die Rechte der Frauen.
Human Rights Watch etwa kritisiert, dass eine Frau als «ungehorsam» gelte, wenn sie ohne Erlaubnis des Ehemannes in öffentlichen Berufen arbeitet, im Ausland studiert oder reist. Diese Einschränkungen würden gegen die Verfassung Katars und gegen internationales Recht verstossen.
Fatma al Nuaimi hat auch dafür eine Antwort parat: «Frauen spielen eine entscheidende Rolle in der Entwicklung des Landes. In jedem Sektor gibt es arbeitstätige Frauen – und zwar nicht nur als einfache Arbeitskräfte, sondern auch in Führungspositionen.» Sie betont, dass von den Universitätsabschlüssen in Katar mehr als 60 Prozent auf Frauen fallen.
Katars Vorzeigefrauen
Als Vorzeigefrau in Katar gilt Sheikha Moza bint Nasser (63). Sie ist gebildet, Mutter von sieben Kindern und die zweite von drei Ehefrauen des ehemaligen Scheichs Hamad bin Chalifa Al Thani (70). Sie hat die «Education City» initiiert, ein zwölf Quadratkilometer grosser Campus mit einigen der weltweit führenden Universitäten, Gründerzentren und Technologiehubs. Zu ihr schauen junge Frauen in Katar auf. Zum Beispiel die Influencerin und Unternehmerin Haneen Al Saify (30).
Haneen, als Palästinenserin in Katar geboren, ist selbst ein Star im Emirat. Die studierte Chemieingenieurin hat fast 955’000 Follower auf Instagram und selten Zeit. Blick trifft sie zwischen zwei Reisen in ihrem Restaurant in einer der luxuriösesten Shoppingmalls in Doha. Sie ist eben zurück von der Paris Fashion Week, vor ihr liegen zwei iPhones, die ständig ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Ihr Erfolgsrezept: Sie hat Mode mit Religion und Tradition verbunden.
Sie sagt: «Das Studium hat mir geholfen, mich weiterzuentwickeln. Zu realisieren, was ich in Zukunft machen will, wer ich sein will.» Sie ist, nicht zuletzt durch ihre vielen Reisen, zu einer Art Missionarin für ihr Land und dessen Frauen geworden. Ihre Hauptbotschaft lautet: «Die arabischen und muslimischen Frauen in Katar sind mächtig. Die meisten von uns sind unabhängig und werden von unserem Land unterstützt.»
Emir beteiligt Bürger am Reichtum des Landes, dafür gibt es wenig Kritik
Haneen erzählt, die meisten katarischen Frauen würden als Unternehmerinnen arbeiten. «Wir brauchen gute Bildung, ein gutes Gesundheitssystem und ein Haus, in dem wir leben können – das alles erhalten wir vom Staat. Das heisst aber noch lange nicht, dass wir einfach zu Hause sitzen und nichts tun.»
An Haneen Al Saify lässt sich die Gegensätzlichkeit der traditionellen katarischen Gesellschaft gut aufzeigen. Sie ist erfolgreich, reist viel und wird als Vorbild für die moderne katarische Frau gehandelt. Gleichzeitig verdient sie ihr Geld mit dem Verkauf von Hidschabs, einem Kleidungsstück zum Verschleiern von Haaren, Ohren und Hals.
Und vielleicht ist die Gleichung in Katar tatsächlich so einfach: Emir Tamim bin Hamad Al Thani (42) kauft sich die Loyalität der Bürger, indem er sie gratis an Top-Universitäten studieren lässt und sie am Reichtum des Landes beteiligt. Die Bürger verzichten im Gegenzug auf politische Mitwirkung und allzu kritische Meinungen.