In Westeuropa ist ein Grossteil der Bevölkerung doppelt geimpft, viele Menschen haben auch bereits Booster-Shots gegen das Coronavirus erhalten. Das normale Leben schien unlängst noch zum Greifen nahe, dann kam die Omikron-Variante. Diese ist nicht nur infektiöser als frühere Varianten, sondern kann anscheinend auch den Impfschutz besser umgehen.
Dass Omikron womöglich weniger schwere Krankheitsverläufe verursacht als frühere Varianten, stimmt hoffnungsvoll. Auch gehen einige Experten davon aus, dass die Booster-Impfung den Schutz auch hinsichtlich der Omikron-Variante wesentlich verbessern kann. Allerdings sind diese Angaben noch mit Unsicherheiten behaftet.
Bis zu 74'800 Todesfälle befürchtet
Beunruhigend ist momentan der Umstand, dass bei einer hohen Verbreitungsgeschwindigkeit des Virus selbst ein geringer Prozentsatz von schweren Fällen zu einer hohen Zahl von Spitaleinweisungen führen kann. Dabei sind viele Spitäler schon jetzt sehr stark ausgelastet. Dass sich Omikron schneller ausbreitet, zeigte sich bereits in Südafrika, wo die Variante entdeckt wurde. Inzwischen steigen die Zahlen auch in Norwegen, Dänemark und Grossbritannien rasant. Es ist zu erwarten, dass es in der Schweiz zu einer ähnlichen Entwicklung kommen wird.
Wissenschaftler der London School of Hygiene and Tropical Medicine haben berechnet, was die Ausbreitung der neuen Corona-Variante für Grossbritannien bedeuten könnte. Die Forscher haben vier Szenarien ausgearbeitet. Diese reichen von einem optimistischen Szenario, bei dem das Virus den Immunschutz nur in seltenen Fällen umgehen kann und die Booster-Impfungen sehr effektiv sind, bis zu einem pessimistischen Szenario, bei dem Omikron auch sehr viele Geimpfte und Genesene ansteckt.
Selbst im besten Fall würden sich in Grossbritannien bis im April 20,9 Millionen Menschen mit Omikron infizieren, wie es heisst. 175'000 müssten ins Spital, 24'700 Infizierte würden sterben. Im schlimmsten Szenario wären es bis Ende April 34,2 Millionen Infizierte. Das ist rund die Hälfte der total etwas über 67 Millionen Einwohner. Die Forscher rechnen im schlimmsten Fall zudem mit 492'000 Spitaleinweisungen und 74'800 Todesfällen. Die Studie wurde noch nicht von anderen Fachpersonen begutachtet.
Erneute Massnahmen wohl unausweichlich
Die Wissenschaftler haben in ihrem Modell keine Massnahmen wie einen allfälligen Lockdown oder Homeoffice-Pflicht berücksichtigt. Die Studie soll also zeigen, was passieren könnte, sollte die Regierung nicht eingreifen. Eine der Autorinnen, Rosanna Barnard, sagt, zum Schutz des Gesundheitssystems seien neue Schutzmassnahmen nötig. «In unserem optimistischsten Szenario würden die Auswirkungen von Omikron Anfang 2022 durch milde Kontrollmassnahmen wie Homeoffice gemildert werden», sagt Barnard. Das pessimistischste Szenario deute jedoch darauf hin, dass man möglicherweise strengere Einschränkungen hinnehmen müsse, um sicherzustellen, dass das Gesundheitssystem nicht überlastet werde.
«Das Tragen von Masken, Social Distancing und Auffrischungsimpfungen sind wichtig, reichen aber möglicherweise nicht aus», sagt Barnard laut BBC. «Niemand will einen weiteren Lockdown, aber als letztes Mittel könnten solche Massnahmen erforderlich sein, um die Gesundheitsdienste zu schützen, wenn Omikron ein signifikantes Mass an Immunflucht oder eine anderweitig erhöhte Übertragbarkeit im Vergleich zu Delta aufweist.»
In Norwegen rechnet die Regierung damit, dass Omikron bis zu Weihnachten bereits die dominierende Variante sein wird. In Dänemark teilte das staatliche Serum-Institut (SSI) unlängst mit, dass vom 1. bis 9. Dezember der Anteil der Omikron-Variante bei den positiven Corona-Tests von 1,7 auf 10,2 Prozent gestiegen sei. Experten glauben daher, dass Omikron in Dänemark inzwischen bereits die vorherrschende Variante ist.
Dänemark zeigt, wie es in der Schweiz weitergehen könnte
In der Schweiz ist derzeit unklar, wie hoch der Anteil der Omikron-Fälle an den gesamten Neuinfektionen wirklich ist. Der «Tages-Anzeiger» hat anhand eines Vergleichs mit Dänemark, das bei der Bestimmung von Virusvarianten weltweit führend ist, errechnet, wie sich die Spitaleinweisungen hinsichtlich der Ausbreitung der Omikron-Variante in der Schweiz entwickeln könnte.
In Dänemark mussten bisher 0,8 Prozent der Omikron-Infizierten hospitalisiert werden. Weil diese Daten erst auf wenigen Fällen basieren, kann sich diese Zahl in Zukunft noch ändern. In der Schweiz werden 1,4 Prozent der bestätigten Corona-Infizierten im Spital behandelt. Aktuell vermeldet das Bundesamt für Gesundheit (BAG) 149 Spitaleinweisungen. Am Mittwoch waren es 220, am Dienstag 155. Wird die Zahl steigen oder sinken, wenn Omikron dereinst auch in der Schweiz die dominierende Variante ist?
«Die Übertragungsrate ist fast dreimal so hoch», sagt Richard Neher vom Biozentrum der Universität Basel laut der Zeitung zur Omikron-Variante. Dem Bericht zufolge deutet also wenig darauf hin, dass die Zahl der täglichen Ansteckungen bei 10'000 verharren wird. Ein Rückgang der Spitaleinweisungen aufgrund des offenbar milderen Krankheitsverlaufs bei Omikron ist demnach auch nicht unbedingt zu erwarten.
Herrschen bald Zustände wie im Herbst 2020?
«In Anbetracht der Tatsache, dass sich Omikron fast dreimal schneller ausbreitet als Delta, sind 20’000 Neuinfektionen pro Tag ein realistisches Szenario», heisst es weiter. Die Folge: Deutlich mehr Menschen würden tagtäglich mit Covid-19 ins Spital eingeliefert werden – schon bei einer im Vergleich zu heute deutlich niedrigeren Hospitalisierungsrate von 1 Prozent.
Das norwegische Gesundheitsinstitut schätzt, dass es in drei Wochen zwischen 90’000 und 300’000 Omikron-Fälle pro Tag geben könnte, wenn keine weiteren Massnahmen ergriffen werden. Auch die britische Gesundheitsbehörde rechnet mit einer Explosion der Ansteckungen von heute täglich 50’000 auf eine Million. In der Schweiz seien 50'000 Ansteckungen pro Tag daher «keineswegs aus der Luft gegriffen», schreibt der «Tages-Anzeiger». In diesem Szenario würden die Spitäler sogar bei einer Hospitalisierungsrate von 0,5 Prozent mit täglich 250 neuen Patientinnen und Patienten konfrontiert werden. Das sind so viele wie im Herbst 2020, als die Schweizer Spitäler die meisten Einweisungen von Corona-Patienten in dieser Pandemie verzeichneten. (noo)