Israels Premier habe die Palästinenser während Jahren zu spalten versucht, um eine Zweistaatenlösung zu sabotieren
Historiker – Netanyahu beschützte die Hamas

Israels Regierungschef Netanyahu sei nie wirklich daran interessiert gewesen, die Hamas zu zerschlagen. Seine Regierung habe die Terrorgruppe sogar beschützt, sagt ein israelischer Historiker, um eine Zweistaatenlösung zu sabotieren.
Publiziert: 27.11.2023 um 00:43 Uhr
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Aktualisiert: 27.11.2023 um 14:42 Uhr
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Gegner von Israels Premierminister Benjamin Netanyahu demonstrierten am Samstag in Jerusalem und Tel Aviv.
Foto: imago/UPI Photo
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Daniel KestenholzRedaktor Nachtdienst

In Israel gehen derzeit Menschenmassen nicht nur für die Rückkehr der Geiseln in Hamas-Gewalt auf die Strassen. Am Samstagabend haben in Jerusalem und Tel Aviv Tausende für den Rücktritt von Premierminister Benjamin Netanyahu (74) protestiert. Demonstranten umzingelten die Residenz des Regierungschefs. Er habe Israels Volk nicht vor dem 7. Oktober schützen können, so die Vorwürfe.

Immer mehr rückt wieder Netanyahus vergangene Hamas-Politik in den Vordergrund. Jetzt erhebt ein Historiker schwere Vorwürfe gegen den israelischen Premier. «Netanyahu und Hamas waren aufeinander angewiesen», titelt die «Washington Post». Beide könnten vor ihrem Ende stehen. Netanyahu habe eine «seltsame Symbiose» mit der militanten palästinensischen Terrorgruppe Hamas unterhalten, die seit Jahrzehnten den Gazastreifen beherrscht, sagt der israelische Historiker Adam Raz. Netanyahu habe die Hamas dazu benutzt, um den israelisch-palästinensischen Friedensprozess zu sabotieren und die Gründung eines palästinensischen Staates zu verhindern.

Netanyahu, der Israel schon von 2009 bis 2020 regierte und im Dezember 2022 an die Macht zurückkehrte, habe während seiner gesamten Amtszeit wiederholt geschworen, die Hamas zu zerstören. Stattdessen habe er eine Politik verfolgt, die der Terrorgruppe geholfen habe, in Gaza an der Macht zu bleiben. Netanyahus Regierungen hätten Geldtransfers aus Katar zugestimmt, mit denen öffentliche Gehälter im Gazastreifen gezahlt, die örtliche Infrastruktur verbessert und angeblich sogar Hamas-Operationen finanziert worden seien.

Divide et impera

«In den letzten zehn Jahren hat Netanyahu darauf hingearbeitet, jeden Versuch zu blockieren, die Hamas im Gazastreifen zu zerschlagen», sagt Historiker Raz. Der Autor zahlreicher Bücher über das Konfliktgebiet spricht von einer «seltsamen Allianz» zwischen Netanyahu und der Hamas.

Das Ziel von Netanyahus Politik bestand angeblich darin, die Palästinenser zu spalten, der Hamas die Herrschaft über den Gazastreifen zu überlassen und ihren Rivalen von der Palästinensischen Autonomiebehörde die Kontrolle über das Westjordanland zu überlassen. Divide et impera. Eine Politik des Teilens und Herrschens. Der Konflikt zwischen den beiden Gruppen machte eine Zweistaatenlösung auf dem Verhandlungsweg unmöglich, folgert die Analyse. Dies habe es Netanyahu erlaubt, die Palästinenserfrage einfach zu ignorieren.

Selbst 2018, als die Hamas und Palästinensische Autonomiebehörde kurz vor einer Annäherung standen, habe Netanyahu versucht, eine Versöhnung zwischen den beiden Seiten zu verhindern. «In den letzten zehn Jahren hat Netanyahu daran gearbeitet, jeden Versuch zu blockieren, die Hamas in Gaza zu zerstören», so Historiker Raz.

Israels und Gazas Führungen in Bedrängnis

Jetzt werde Netanyahus Strategie von traumatisierten Israelis unter die Lupe genommen. Die Wut quer durch das politische Spektrum habe die Unterstützung für den Langzeitpremier auf einen historischen Tiefstand gebracht. Laut Dahlia Scheindlin, einer israelischen Meinungsforscherin und politische Analystin, halten Netanyahu nur noch 25 Prozent der Wähler für den am besten geeigneten Politiker für das Amt des Regierungschefs.

Netanyahu wankt, und auch immer mehr Palästinenser in Gaza seien bereit, die Hamas in sozialen Medien und in Gesprächen zu kritisieren, berichtet die Zeitung. Die letzten Wahlen in Gaza fanden 2006 statt. Vor dem Krieg äusserte man Kritik am Regime der Hamas weitgehend im Flüsterton, aus Angst vor Vergeltungsmassnahmen der Islamisten. Jetzt legen Menschen die Angst ab.

Ein 39-Jähriger wird zitiert, der Angriff der Hamas auf Israel habe ihn mit «Entsetzen» erfüllt. Ein 44-jähriger Mann sagt: «Das Fehlen einer kompetenten Regierung hat uns in Armut und Elend gestürzt, das durch diesen verheerenden Krieg noch verschlimmert wird. Israels Aktionen verschonen niemanden, unabhängig davon, ob man der Hamas angehört oder nicht.»

Netanyahu spielt auf Zeit

Netanyahu und Hamas – «beide könnten auf dem Weg nach draussen sein», titelt die «Washington Post». «Asharq Al-Awsat», eine der grössten arabischsprachigen Tageszeitungen der Welt, meldete am Samstag, dass Netanyahu prinzipiell zum «Rücktritt bereit» sei. Erst aber wolle er zusammen mit US-Präsident Joe Biden (81) einen regionalen Friedensplan festlegen.

Die einflussreiche, in London herausgegebene Zeitung beruft sich dabei auf «politische Vertrauenskreise». Der israelische Premierminister erwäge, in den Ruhestand zu gehen, jedoch nicht unmittelbar nach dem Krieg. Nach Bidens Vision wolle Netanyahu jetzt, in die Enge gedrängt, den Sieg erringen und umfassende regionale Verhandlungen aufnehmen.

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