Die Verzweiflung gibt den Familien schier unerschöpfliche Kraft. Tagtäglich kommen Angehörige der 239 Hamas-Geiseln auf den Plätzen israelischer Städte zusammen. Sie halten die Fotos ihrer entführten Kinder, Frauen, Männer, Geschwister, Eltern oder Grosseltern hoch. Sie zünden Kerzen an, rufen zu Aufmärschen auf. Sie erheben ihre gebrochenen Stimmen: «Bringt unsere Lieben zurück!», «Rettet sie!» und «Vergesst uns nicht!».
Auch am Dienstag, am 39. Tag nach dem Massaker an 1200 Zivilisten und Soldaten, ziehen sie los, begleitet von Hunderten anderen Israelis. Der Weg führt von Tel Aviv nach Jerusalem. Ihr Ziel: der Regierungssitz in Jerusalem. Der Marsch wird diesmal beflügelt von neuer Hoffnung.
Geisel-Deal kurz vor dem Durchbruch
Wie in internationalen Medien durchsickerte, steht offenbar die Freilassung von 70 israelischen Frauen und Kindern bevor. Im Gegenzug könnten 120 palästinensische Frauen und Minderjährige aus israelischen Gefängnissen entlassen werden, berichtet Reuters am Dienstag und zitiert eine anonyme israelische Quelle. Der gruppenweise Austausch würde während einer fünftägigen Feuerpause erfolgen. Soweit die Verhandlungsmasse der Kriegsparteien, die über die Vermittlung Katars in Kontakt stehen.
Kommt der Deal tatsächlich zustande, würde dies einen Wendepunkt in Israels Kriegsführung bedeuten. Die Waffen müssten schweigen – wenn auch nur für einige Tage. Ob sich Benjamin Netanyahu (74) darauf einlässt, bezweifelt der deutsche Sicherheitsexperte Frank Umbach (59) im Blick-Gespräch. Er sagt: «Eine so lange Feuerpause würde der Hamas erlauben, sich neu zu gruppieren.» Das wolle Israel unter allen Umständen verhindern.
Waffenpause würde militärischen Erfolg schwächen
Die Bodenoffensive sei anders verlaufen, als von der Hamas erwartet, so der Wissenschaftler an der Uni Bonn. «Man hat nicht auf ein Überraschungsmomentum gesetzt, sondern nach ausgiebigen Raketenangriffen Stadtteile eingekreist, einen nach dem anderen, das Tunnelsystem durchkämmt und so die Hamas vor Ort bekämpft – ohne grosse eigene Verluste.» Mittlerweile hat die Armee die Kontrolle über weite Teile des Nordens von Gaza. Eine Waffenpause würde diesen Erfolg zunichtemachen.
An ein schnelles Ende des Krieges glaubt Frank Umbach dennoch nicht: «Die militärischen Operationen im Norden werden vielleicht noch Wochen anhalten. Dann werden die Kämpfe im Südteil weitergehen, wohin sich auch viele Hamaskämpfer zurückgezogen haben.» Auch mit der Freilassung einiger Geiseln sei das Problem nicht gelöst. «Danach hätte die Hamas noch immer über 170 Geiseln in ihrer Gewalt, von denen man nicht weiss, wie viele von ihnen noch leben», sagt Umbach weiter.
Westen drängt auch Feuerpausen
Jedenfalls: Der Druck auf Benjamin Netanyahu steigt. Nicht nur von den anmarschierenden Familien der Geiseln. Viele Israelis machen den Premier und seine rechtspopulistische Regierungskoalition mitverantwortlich für das Massaker vom 7. Oktober – und damit für die Geiselnahme. Auch der Westen, vor allem die USA üben Druck aus, drängen auf Feuerpausen, um Hilfsgüter nach Gaza zu schaffen und Patienten aus den Spitälern zu evakuieren.
«Für die meisten Israelis steht die Rettung der Geisel vor jedem anderen Kriegsziel», sagt Aktivist und Unternehmer Zev Perlmutter (47) aus Tel Aviv zu Blick, «doch sie stehen auch zu 100 Prozent hinter ihren Soldaten und befürworten die Bodenoffensive.» Ob diplomatisch oder im Kampf – Hauptsache, die Befreiung der Geiseln gelingt.