Israels Impfchef Boaz Lev (73) im Blick-Interview
«Wir werden den Impfpass bald abschaffen»

Im Blick erklärt der schnellste Impfchef der Welt den Datenhandel mit Biontech/Pfizer, was Ultraorthodoxe und Araber zum Piks bringt – und warum er trotz der Raketenangriffe Palästinenser impfen will.
Publiziert: 17.05.2021 um 01:15 Uhr
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Aktualisiert: 17.05.2021 um 09:28 Uhr
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Boaz Lev leitet die Impfstoff-Taskforce in Israel.
Foto: Zvg
Interview: Fabienne Kinzelmann

Was fragt man Israels Impfchef, wenn Corona in seinem Land gerade unter Kontrolle ist – und dann der Konflikt mit Palästina eskaliert? Zuerst wohl: Sind Sie und Ihre Familie sicher? «Sicherheit ist relativ», sagt Boaz Lev (73). Der Arzt und Gesundheitsmanager sitzt in seinem Büro in Jerusalem, das Interview findet per Videocall statt. Bunker schützen vor dem Raketenhagel der Hamas, aber Lev bedrückt es, wie die Gewalt auf die Strasse schwappt. Arabische und jüdische Israelis attackieren sich. «Das wird uns langfristig beschäftigen. Wir sind doch Brüder und Nachbarn!» Das sei ein «wirkliches Problem». Lev sagt das so, als gäbe es sonst eigentlich keines mehr.

Die Corona-Krise dominiert die meisten Länder, in Israel haben Sie nun die höchste Impfrate weltweit. Wie ist das Leben abseits der aktuellen Spannungen?
Boaz Lev: Wie früher! Die Schulen sind offen, Restaurants sind offen, Fussballspiele finden statt. Den «grünen Pass», der noch für viele Aktivitäten nötig ist, werden wir wohl auch bald abschaffen.

Wo spüren Sie Corona noch?
Die Grenzen sind noch geschlossen und die neuen Varianten machen uns Sorgen. Das beobachten wir schon sehr genau. Aber abgesehen davon ist das Leben sehr normal. Die Normalität zeigt sich leider auch an den aktuellen Krawallen auf der Strasse.

Für diese Freiheit haben Sie einen gewissen Preis gezahlt.
Ich würde nicht von einem Preis sprechen!

Aber Sie haben schon vor der Zulassung zugeschlagen und schnell grosse Mengen Impfstoff im Austausch für Patientendaten erhalten.
Ja, aber es handelt sich dabei nicht um persönlichen Daten. Es geht nur um statistische Daten – etwa, wie viele Menschen sich nach der ersten oder zweiten Dosis noch infizieren. Das sind Daten, die von öffentlichem Interesse sind und die Effektivität des Impfstoffs betreffen. Ich glaube, das ist etwas, was die Welt braucht. Dank Israel ist klar, welche Sicherheitsrisiken bestehen und wie effektiv der Impfstoff ist.

Stimmt es, dass Sie fast das Doppelte pro Dosis wie die EU bezahlt haben?
Die Verträge sind sehr vertraulich, da habe ich keinen Einblick. Aber wenn Sie mich fragen: Jeder Preis wäre es wert gewesen. Leben sind wichtiger als Geld. Dass wir unser Leben zurückhaben, dass wir wieder andere Menschen treffen und ohne Angst nach draussen gehen können, ist unbezahlbar.

Fast 60 Prozent der Bevölkerung sind voll geimpft. Wie haben Sie es geschafft, die Impfdosen so schnell zu importieren, zu lagern und zu verteilen?
Die Logistik war schwierig, aber machbar. Wir haben die Lieferungen, die ja bei bis zu –80 Grad gekühlt werden müssen, direkt an Orte geschickt, an denen viele Leute gleichzeitig geimpft werden konnten. Ausschlaggebend war aber, dass unser Gesundheitssystem digitalisiert ist. Wir haben Vorerkrankungen, Ausbildung et cetera von jeder Person erfasst – das hat es erleichtert, mit den Menschen zu kommunizieren und sie je nach Gruppe zur richtigen Zeit an den richtigen Ort zum Impfen zu bringen.

Nun aber sinken Ihre Impfzahlen seit Wochen. Aktuell verteilen Sie im Schnitt täglich nur noch 0,06 Dosen pro 100 Einwohner. Woran liegt das?
Die meisten, die impfberechtigt sind, haben die Impfung schon ganz oder teilweise erhalten. Kinder fehlen natürlich noch. Etwa 0,5 bis 1 Prozent holt seine zweite Impfdosis wegen Nebenwirkungen oder Fehlinformationen nicht ab. Und ein paar Hunderttausend Menschen lehnen Impfungen oder die Corona-Impfung im Speziellen ganz ab. Aber das ist kein grosses Problem. Die 40 Fälle, die wir jetzt am Tag haben, können wir problemlos in Schach halten. Uns besorgt eher, dass die Welt um uns herum nicht geimpft ist und neue Varianten entstehen. Deswegen schützen wir unsere Grenzen weiterhin gut, haben klare Test- und Quarantäneregeln und sequenzieren viel, damit wir das Infektionsgeschehen wirklich überblicken.

Ultraorthodoxe und die arabische Minderheit galten als Pandemietreiber. Wie haben Sie es geschafft, auch diese beiden Gruppen zu einer hohen Impfrate zu bewegen?
Die Regierung ist sehr offensiv in die Medien gegangen und hat mit religiösen Führern und einflussreichen Leuten wie Bürgermeistern gesprochen. Es gab sehr viele Fake News in diesen Communitys – wie etwa, dass die Impfungen die Fruchtbarkeit beeinflussen. Da mussten wir mit viel Information dagegen ankämpfen. Aber für einen echten Wandel sorgten – leider – Todesfälle oder Fehlgeburten unter infizierten Schwangeren. Das hat der Impfkampagne in diesen Gruppen wohl den grössten Aufschwung gegeben.

Sind Impfgegner im Allgemeinen ein grosses Problem?
Sie sind sehr laut, aber nicht sehr stark – wie man an der Impfrate sieht. Das grössere Problem ist die Frage von Impfungen für Kinder. Das ist ein extrem sensibles Thema. Viele Menschen, die nicht grundsätzlich gegen Impfungen sind, lehnen die Corona-Impfung für Kinder dennoch ab, weil Kinder selten schwer krank werden. Wir möchten Kinder aber unbedingt impfen, weil wir sonst keine Chance auf Herdenimmunität haben.

Hätte jedes westliche Land so effizient impfen können wie Israel?
Nein, das denke ich nicht. Es braucht dafür ein starkes Gesundheitssystem. Und der Impfstoff ist nun mal begrenzt. Wir hatten Glück, dass wir so klein sind und gleich so viele Lieferungen bekommen haben.

Die Schweiz hat weniger Einwohner und ebenfalls ein gutes Gesundheitssystem. Trotzdem sind erst knapp 13 Prozent vollständig geimpft. Hätten wir es besser machen können?
Das kann ich wirklich nicht sagen. Für eine erfolgreiche Impfkampagne muss man sich in vielerlei Hinsicht auf ein Wagnis einlassen – etwa, Impfstoffe zu kaufen, die noch gar nicht zugelassen sind. Wir haben im April, Mai vor einem Jahr schon mit den Herstellern verhandelt. Damals gab es noch gar keinen Impfstoff. Im Nachhinein war das natürlich der richtige Weg. Und egal, was wir dafür bezahlt haben: Es war alles wert.

Israel hat auch versucht, einen eigenen Impfstoff zu entwickeln. Was ist da der Stand der Dinge?
Er befindet sich noch in der klinischen Prüfung, kurz vor der dritten Phase. Ich weiss noch nicht, wie effektiv er ist. Wir wären aber auch für künftige Pandemien grundsätzlich gern in der Lage, einen eigenen Impfstoff herzustellen und auch hier zu produzieren. Diese Infrastruktur aufzubauen, ist aufwendig und kostspielig, aber wichtig.

Israel impft auch Palästinenser. Allerdings mit Moderna statt mit Biontech. Warum?
Ganz einfach, weil er verfügbar war. Die Israelis haben wir auch für die Datenerhebung mit Biontech/Pfizer geimpft, bei den palästinensischen Arbeitern in Israel haben wir dann mit Moderna angefangen. Der beste Corona-Impfstoff ist der, den man am schnellsten haben kann. Meine Tochter in London etwa wurde mit Astrazeneca geimpft. Auch der ist eine gute Wahl.

Werden die Raketenangriffe etwas an den Impfungen für Palästinenser ändern?
Das hoffe ich nicht! Aber gleichzeitig ist die Situation gerade sehr instabil. Das ist ein wichtiges Thema, und die ganze Welt sollte daran arbeiten, Länder wie Palästina zu impfen. Es liegt in unserem eigenen Interesse, dass die Länder um uns herum geimpft sind, weil sie sonst ein Einfallstor für Infektionen sein können.

Der schnellste Impfchef der Welt

Boaz Lev (73) leitet die israelische Corona-Impfstoff-Taskforce, seit 1994 arbeitete er in verschiedenen Positionen für das Gesundheitsministerium in Jerusalem. Der Spezialist für Innere Medizin und Infektionskrankheiten gehörte zum ersten Jahrgang der Tel Aviv University School of Medicine und sammelte Praxiserfahrung in Boston (USA) und Minneapolis (USA). Lev ist Vater von vier Kinder – «alle kümmern sich auf die eine oder andere Weise um Menschen».

Boaz Lev (73) leitet die israelische Corona-Impfstoff-Taskforce, seit 1994 arbeitete er in verschiedenen Positionen für das Gesundheitsministerium in Jerusalem. Der Spezialist für Innere Medizin und Infektionskrankheiten gehörte zum ersten Jahrgang der Tel Aviv University School of Medicine und sammelte Praxiserfahrung in Boston (USA) und Minneapolis (USA). Lev ist Vater von vier Kinder – «alle kümmern sich auf die eine oder andere Weise um Menschen».

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