Wie explosiv die Lage im Irak noch 18 Jahre nach Kriegsende ist, zeigt sich bereits kurz nach der Landung: Wenige Meter vom Flughafen entfernt töteten die USA am 3. Januar 2020 den iranischen General Qasem Soleimani (†62), der eben in Bagdad angekommen war, mit einem gezielten Raketenangriff. Der Blechhaufen, der einst sein Auto war, ruht nun auf einem Sockel. Die Inschrift verkündet: «Here is the Crime of American Terrorism.»
Bagdad ist vermutlich die Stadt mit der welthöchsten Dichte an Sicherheitspersonal. An jeder Ecke stehen grimmige Männer mit kugelsicheren Westen und Maschinenpistolen, oft auch gepanzerte Fahrzeuge. Und doch kommt es immer wieder zu Anschlägen. Besonders gefährdet ist die Grüne Zone, in der das irakische Parlament, westliche Botschaften und eine US-Garnison hinter hohen Mauern und Stacheldraht liegen.
Der erste Bundesrat seit 1979 im Irak
Umkreist von unzähligen Polizeimotorrädern und -autos, wird Ignazio Cassis (59) mit Blaulicht und Sirene ins Innere der Hauptstadt eskortiert: Er ist der erste Bundesrat seit 42 Jahren, der den Irak besucht. «Unser Land kann hier eine wichtige Rolle spielen und zur regionalen Stabilität beitragen», so der Bundesrat, der nach 30 Jahren Unterbruch (Blick berichtete) wieder eine Botschaft eröffnen will – auch wenn sich Diplomaten in Bagdad wie im ganzen Land weder frei noch ohne Security bewegen können.
Die irakischen Medien interessieren sich sehr für den hohen Besuch. Jeder hier scheint die Schweiz als Modell des friedlichen Zusammenlebens verschiedener Religionen und Sprachgruppen zu kennen. Dass der Aussenminister in Begleitung seiner Gattin Paola Rodoni Cassis (57) reist, betrachten die Gastgeber als besondere Ehre. Ebenso dass Cassis in Bagdad übernachtet: Regierungsmitglieder aus den USA reisen am selben Tag wieder ab.
Das Land ist trotz grosser Armut der Bevölkerung reich an Erdölvorkommen, im Besitz ungeahnter wirtschaftlicher Möglichkeiten und Ursprungsgebiet einer der ältesten Kulturen der Menschheit. Doch nach der Diktatur von Saddam Hussein (1937–2006), drei Golfkriegen, den katastrophalen Folgen von US-Besatzung und tödlichen Attacken des Islamischen Staats (IS) herrschen noch immer Terror und Verwüstung.
Jungunternehmer wollen Touristen in den Irak holen
Nun gibt es erstmals einen Hauch von Hoffnung: Der IS ist besiegt, eine demokratisch gewählte Regierung versucht, das Land aus der Misere zu holen. 90 Staaten haben bereits Botschaften eröffnet – alle wollen möglichst vorn mit dabei sein, wenn die 39-Millionen-Nation wieder aufblüht.
Aktuell stammen 90 Prozent der Einnahmen des irakischen Fiskus aus dem Ölgeschäft. Doch fast die komplette Summe geht für den aufgeblähten Beamtenapparat drauf. Die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch. Wer kann, krallt sich eine der vielen Stellen in der Verwaltung – ein Teufelskreis!
Umso wichtiger sind private Investoren. Im Sportstadion des Schweizer Architekten Le Corbusier trifft Cassis Jungunternehmer. Sama Ali Jaafar Yas (29) und Mohamed Mahdi (18) wollen den Irak zur Touristendestination machen. «Dazu muss in alle Köpfe: Der Irak ist kein Kriegsschauplatz mehr, sondern die Wiege der Menschheit!», stellen die beiden fest. Sobald die Covid-Pandemie überwunden sei, wollen sie zunächst Iraker an die 22'000 historischen Stätten des Landes führen, dann Ausländer. Schon heute, so betonen sie stolz, dürfen bereits Touristen aus 35 Nationen ohne Visum in den Irak reisen.
Auf den Spuren von Papst Franziskus
Cassis eilt von einer offiziellen Begegnung zur nächsten. Er muss den irakischen Protokollführern erst eindringlich erklären, dass sie ihm das alltägliche Bagdad nicht vorenthalten dürfen. Am Ende macht er, umringt von Bodyguards, einen kleinen Abstecher in ein Teehaus und auf einen Markt. Dort pulsiert das Leben, als gäbe es kein Corona. Cassis lässt es sich nicht nehmen, spontan unter freiem Himmel eine einheimische Spezialität zu geniessen.
97 Prozent der Iraker sind Muslime, drei Prozent Christen. Cassis besucht auch das Oberhaupt der chaldäisch-katholischen Kirche, Louis Raphaël I. Kardinal Sako (72) – und wandelt dabei sozusagen auf den Spuren von Gottes Stellvertreter: Erst einen Monat ist es her, dass Papst Franziskus (84) seinen irakischen Kollegen besucht hat. Der schwärmt nun beim Verzehr von Ostereiern davon, wie der Pontifex auch Nicht-Christen in seinen Bann gezogen habe. «Der Papst war sehr glücklich und sagte: ‹Ich werde den Irak in meinem Herzen tragen.›»
Der Kardinal wird kurz ungehalten, als Cassis fragt, ob die Toleranz gegenüber Christen im Irak gewährleistet sei. «Wir müssen doch nicht toleriert werden! Wir sind Iraker und haben die gleichen Rechte wie alle.» Die Diskussion findet auf Englisch statt, zum Abschied wechseln die beiden ein paar Worte auf Italienisch. «Sie sprechen das aber gut!», staunt der Kardinal. Cassis lächelt: «Es ist meine Muttersprache!»
Eine Genfer Familie in Bagdad
Abends spät sitzt die Schweizer Delegation – engste Mitarbeiter des Bundesrates, zwei Parlamentarier, Vertreter des Tessiner Fernsehens und Blick – im Garten des Hotels Babylon bei einem Fischessen. Vom Nebentisch späht immer wieder eine Familie herüber, dann zeigt sich: Es sind Genfer, die ihre Verwandten in Bagdad besuchen. Die Schweiz ist ein kleines Land – und doch sind ihre Bürger überall auf der Welt anzutreffen.
Am Dienstagmorgen gehts im Bundesratsjet weiter in den Oman – dort herrschen schon am Vormittag 38 Grad im Schatten. Das Sultanat ist achtmal so gross wie die Schweiz, hat aber nur 3,8 Millionen Einwohner und besteht vor allem aus Gebirge und Wüste. Dennoch wird es gern «Schweiz des Mittleren Ostens» genannt: Der Oman liegt im Dreieck Saudi-Arabien, Iran, Jemen und vermittelt immer wieder neutral zwischen allen.
Erst im vergangenen Jahr fand hier ein Machtwechsel statt: Der hochverehrte Sultan war nach 50 Jahren auf dem Thron verstorben. Ein Cousin übernahm das Amt wenige Wochen vor Ausbruch der Corona-Pandemie – und kurz vor dem Zerfall des Ölpreises. Nun geht es vielen Menschen schlechter als je zuvor. Doch in der nahezu absolutistischen Monarchie spreche man nicht über den Sultan, wird der Delegation beschieden.
Einblick ins Geheimste des Oman
Rund 100 Schweizerinnen und Schweizer leben hier, weitere 20'000 besuchen das Land in normalen Jahren als Touristen. Nach der Landung ist Cassis in der Privatresidenz des Aussenministers zum Tee eingeladen. So geht das hier: Man begegnet einander zunächst informell, vor der Eröffnung der Gespräche. Offiziell geht es dann zumeist um die Stabilität des Nahen Ostens, zu der das Sultanat in grossem Mass beiträgt.
Cassis darf etwas vom Geheimsten sehen, das der Oman zu bieten hat: das Maritime Security Center (fotografieren strengstens verboten!). Von hier wird die 3165 Kilometer lange Küste gesichert, speziell die Strasse von Hormus, ein Nadelöhr für den Ölexport: 21 Prozent der weltweit geförderten Mengen werden hier durch eine Meerenge geschleust. Der General zeigt uns, wie Navy-Soldaten auf unzähligen Bildschirmen jedes einzelne Schiff im Auge behalten und dessen Route detailliert per Mausklick verfolgen. «Sieht ein bisschen aus wie im Blick-Newsroom», witzelt Cassis. Als Geschenk überreicht man ihm – oder besser der Eidgenossenschaft – ein wunderschönes Schiffsmodell aus Holz.
Das Rätsel des Dolchs
Beim Abschied am Flughafen löst sich auch ein Rätsel, das manchen in der Delegation beschäftigt hat: Der Dolch, den der Aussenminister des Oman an seinem weissen Gewand trägt, ist echt. Auf Wunsch der Schweizer zieht er die Waffe aus der verzierten Scheide und zeigt sie herum: Sie hat eine scharfe Klinge. Cassis schenkt seinem Gegenüber ein Schweizer Armeemesser. Nicht ohne hinzuzufügen, das Sultanat könne dieses Modell natürlich jederzeit für seine Armee bestellen …
Im Libanon, der letzten Etappe auf Cassis' Tour, ist die Lage durch jahrzehntelange Misswirtschaft und fortwährende Regierungskrisen so prekär, dass die Armee gar nichts mehr einkauft, sondern sogar um Almosen bitten muss: Damit ihre Soldaten noch genug zu essen bekommen, fragte man beim ausländischen Korps an, ob es überzählige Lebensmittel abzugeben hätte.
Das einst blühende Land liegt völlig am Boden. Die Ersparnisse der Menschen sind durch eine grassierende Hyperinflation wertlos. Auch der Staat ist bankrott, es kommt zu Engpässen bei Lebensmitteln und Benzin. Kein Land der Welt hat im Verhältnis zur Bevölkerung mehr Flüchtlinge aufgenommen: Zu rund 4,5 Millionen Libanesen kommen 1,5 Millionen Geflohene aus dem Nachbarland Syrien. «Die sozialen Spannungen haben das Potenzial, zu einer Explosion zu führen», sagt Cassis.
Kinder spielen mit einem Stein Fussball
Zehn Kilometer diesseits der syrischen Grenze besucht er ein Flüchtlingscamp. 270 Menschen leben hier. Bern leistete seit Beginn der Syrien-Krise insgesamt mehr als eine halbe Milliarde Franken Hilfe. Der Aussenminister will sich vor Ort ein Bild von der grössten humanitären Aktion der Schweizer Geschichte machen.
Cassis spricht mit einer Familie: Grossmutter (65), Mutter (27), vier Kinder zwischen 1 und 7 Jahren. Der Mann arbeitet heute als Tagelöhner. Vor sechs Jahren geflohen, leben nun alle von 40 Dollar pro Monat, einer Gabe der Uno. Der Verdienst des Mannes kommt hinzu. Falls er Arbeit findet. Die Sieben haben täglich per Whatsapp Kontakt mit ihren Verwandten in Syrien. Und nur einen Wunsch: in die Heimat zurückzukehren, sobald es die Lage erlaubt.
Am Krater der Explosion im Hafen von Beirut
Die verheerende Explosion im Hafen von Beirut am 4. August 2020 war für das geplagte kleine Land am Mittelmeer «das Tüpfchen auf dem i», wie ein Gesprächspartner berichtet. 200 Menschen starben, 6500 wurden verletzt, die Wohnungen von 300’000 Beirutis zerstört.
Die Detonation von 2750 Tonnen fahrlässig gelagertem Ammoniumnitrat brachte die Regierung zum Einsturz und zerstörte die letzte Hoffnung zahlloser Menschen. Der Ort der Verwüstung sieht acht Monate später praktisch unverändert aus: ein tiefer Krater im Hafenbecken. Schrott und Trümmer, soweit das Auge reicht. Bis tief hinein in die Innenstadt. Ungeziefer. Beissender Gestank. Die Stätte einer neuzeitlichen Apokalypse.
Kein Wunder, bekam Ignazio Cassis fast bei jedem Gespräch seiner Reise zu hören – in welchem Land auch immer der Aussenminister sich gerade befand: «Wir wären glücklich, wenn wir die Probleme der Schweiz hätten!»
Lesen Sie im SonntagsBlick: Das grosse Interview mit Ignazio Cassis über seine Nahost-Reise.