Das Institute for the Study of War (ISW) gilt als Referenz schlechthin für die Analyse von Konflikten weltweit. Tägliche Bulletins informieren neutral und sachlich über aktuelle geopolitische Spannungsherde. Derzeit werden regelmässig Einschätzungen zu China und Taiwan, dem Iran, zu Islamisten und zur «russischen Offensivkampagne» publiziert. Das neueste Bulletin zum Krieg in der Ukraine hat es in sich.
Seit einem Monat läuft die ukrainische Gegenoffensive. Kiew und auch das Pentagon sind bemüht, das Ausbleiben von raschen, grossen Rückeroberungen zu erklären. US-Generalstabschef Mark Milley (65) sprach unlängst von einer «sehr, sehr blutigen» Phase im Krieg. Die erste Welle der Gegenoffensive werde viele Wochen dauern. Jetzt meldet das gewöhnlich sauber analysierende ISW erste Risse in der russischen Front.
Bachmut und Südukraine
Im aktuellsten Ukraine-Bulletin vom 7. Juli sprechen die ISW-Kriegsexperten nicht nur von «taktisch bedeutenden Fortschritten» der ukrainischen Streitkräfte «im Gebiet Bachmut». Berichten zufolge würden die Russen praktisch ihre gesamte östliche Streitkräftegruppe in die Südukraine verlegen. Die grossen Truppenbewegungen seien offenbar ein Hinweis darauf, «dass fast die gesamte Kampfkraft des östlichen Militärbezirks auf die Verteidigung gegen ukrainische Gegenoffensiven vor allem in der Südukraine ausgerichtet ist».
Mit anderen Worten: «Die Verlegung von fast allen Truppen aus dem Osten an die Frontlinie in der Südukraine deutet darauf hin», so das ISW, «dass die russische Verteidigung in der Südukraine möglicherweise brüchig ist.»
Die russische Verteidigung in der Südukraine sei «zwar gewaltig, aber nicht unüberwindbar». Sollte den ukrainischen Streitkräften ein operativer Durchbruch gelingen, müssten die russischen Streitkräfte in der Südukraine wahrscheinlich zum Rückzug blasen. Dies, ohne sich dabei auf nennenswerte Unterstützung durch Reserven verlassen zu können.
Fall Bachmuts für Moskau «inakzeptabel»
Dass Bachmut bald fallen könnte, legt auch das tägliche Nachrichtenbulletin des britischen Geheimdiensts nahe. Nach einer Kampfflaute im Juni sei «Bachmut in den vergangenen sieben Tagen wieder Schauplatz einiger der heftigsten Kämpfe entlang der Front».
Die ukrainischen Streitkräfte hätten sowohl nördlich als auch südlich der von den Russen gehaltenen Stadt stetige Fortschritte gemacht, so das Bulletin vom 8. Juli. «Die russischen Verteidiger haben höchstwahrscheinlich mit einer schlechten Moral, einer Mischung aus ungleichen Einheiten und einer begrenzten Fähigkeit zu kämpfen, ukrainische Artillerie zu finden und zu treffen.»
Für die russische Führung sei es «mit Sicherheit politisch inakzeptabel, Bachmut aufzugeben». Die Stadt habe symbolisches Gewicht als eine der wenigen russischen Eroberungen der vergangenen zwölf Monate. Die Russen hätten jedoch «nur wenige zusätzliche Reserven, die sie in diesem Sektor einsetzen können». Probleme gebe es für Moskau auch in Saporischschja.
Greift Kiew nach der Krim?
Ein Rückzug von Frontstellungen, während man angegriffen werde, sei laut dem ISW «eine äusserst schwierige militärische Aufgabe». Es sei fraglich, ob sich die russischen Streitkräfte «in gutem Zustand zurückziehen» können.
Die Militärstrategen des Thinktanks gehen davon aus, dass die ukrainischen Streitkräfte schrittweise Anstrengungen unternehmen, um die russische Kampfkraft in der Südukraine im Lauf der Zeit systematisch zu schwächen – «das erhöht die Brüchigkeit der russischen Verteidigung».
Diese jetzt bedrängte, südliche Verteidigungslinie der Russen ist Moskaus Bollwerk vor der Halbinsel Krim, die Präsident Wladimir Putin (70) im Jahr 2014 annektieren liess. Demnach verdichten sich Anzeichen, dass Russland die Krim gegen eine Rückeroberung durch die Ukraine verteidigen muss.