«Manche Dinge sind mit normalem Verstand kaum zu ertragen»
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Im Innern des Schlachthofs:«Mit normalem Verstand ist es kaum zu ertragen»

Im Innern des Schlachthofs
«Manche Dinge sind mit normalem Verstand kaum zu ertragen»

Philosoph Thilo Hagendorff arbeitete in mehreren Schweinezuchthöfen und in einer Schlachterei. Was er dort sah: «Der absolute Horror.» Jetzt hat er darüber ein Buch geschrieben.
Publiziert: 04.04.2021 um 09:55 Uhr
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Aktualisiert: 06.04.2021 um 11:06 Uhr
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Engagiert für das Tierwohl: Philosoph Thilo Hagendorff (33) arbeitete in verschiedenen Betrieben der Tierindustrie, um mit eigenen Augen zu sehen, wie es dort zugeht.
Eliane Eisenring

Spärliches Licht erhellt den Raum. In Metallgehegen liegen Schweine auf dem nackten Boden. Es stinkt. Ratten huschen durch die Gänge. Fliegen umschwirren Glühbirnen. Es war ein typischer Schweinemasthof, in dem Thilo Hagendorff (heute 33) vor einigen Jahren arbeitete.

Wenn er an diese Tage zurückdenkt, ist er immer noch erschüttert. Der Tierfreund aus dem deutschen Bundesland Baden-Württemberg, studierter Philosoph, hatte sich 2013 bei deutschen Schweinezuchtbetrieben und einem Schlachthof beworben, um eine Undercover-Recherche durchzuführen.

Für sich selbst, und für alle, die eine Schweinezucht sonst nie von innen zu sehen bekommen. Am Handgelenk trug er eine Uhr mit integrierter Kamera. «Ich wusste, was mich erwartet», sagt er heute. Doch er wollte es mit eigenen Augen sehen. Es war «der blanke Horror».

Sich zu schonen, war noch nie Hagendorffs Ding. Lieber geht er an seine Grenzen. In der Freizeit klettert er auf Berge oder steigt auf ein Rennrad. Extremsport kombiniert er gern mit Tierschutz: Im Sommer 2020 fuhr er 500 Kilometer am Stück, um auf die 5,2 Millionen Schlachtungen pro Jahr in Baden-Württemberg aufmerksam zu machen. 17 Stunden war er unterwegs.

Hagendorff ist seit 13 Jahren Veganer

Auf den ersten Blick würde man Hagendorff solche Aktionen nicht zutrauen. Für das Skype-Gespräch mit SonntagsBlick trägt er ein hellblaues Hemd. Er formuliert bedächtig, fokussiert, analytisch. An der Universität Tübingen beschäftigt er sich mit Ethik und künstlicher Intelligenz.

Privat engagiert er sich seit 13 Jahren für einen respektvollen Umgang mit Tieren. Der Auslöser: eine Dokumentation über das Tierleid in der Fleischindustrie. Seit er sie gesehen hat, ernährt sich Hagendorff vegan. 2012 wurde er Mitglied im Verein Act for Animals.

Von 2011 bis 2015 arbeitete Hagendorff in verschiedenen Schweinezuchten und Schlachthöfen: «Ich wollte direkt nachweisen, was den Tieren angetan und wo geltendes Tierschutzrecht gebrochen wird.»

So konnte der damals 27-Jährige aufdecken, dass in deutschen Zuchthöfen Tausende Ferkel getötet wurden, die zu schwach erschienen oder zu langsam wuchsen – indem man sie an den Hinterläufen packte und gegen eine Wand oder auf den Boden schmetterte. Die von Hagendorff gemachten Aufnahmen führten zu einem landesweiten Skandal.

Tiere bluten bei lebendigem Leibe aus

In Deutschland, dem «Schlachthaus Europas», werden jährlich mehr als 700 Millionen Tiere geschlachtet. Das Land zählt 317 Schlachtbetriebe mit mehr als zwanzig Beschäftigten – Tötungsanlagen für Geflügel nicht mitgezählt.

Einen solchen Betrieb hat Hagendorff als einer der wenigen Aussenstehenden von innen gesehen. In seinem neuen Buch «Was sich am Fleisch entscheidet» zeigt er auf, warum die Fleischindustrie ein Problem ist – für die Tiere, aber auch für Mensch und Umwelt.

In einem Kapitel beschreibt er detailliert die schrecklichen Bedingungen, unter denen Nutztiere leben. Eine exakte Schilderung war ihm wichtig: «Ich glaube, die meisten Menschen würden die Tierindustrie boykottieren, wenn sie wüssten, was da wirklich passiert.»

Obwohl er über die Zustände in Zuchten und Schlachthöfen in der Theorie bereits Bescheid wusste, war er geschockt. «Manche Dinge sind mit normalem Verstand kaum zu ertragen», hält er fest. «Ich habe meine Gefühle, so gut es ging, ausgeschaltet.»

In vielen Zuchtbetrieben haben die Tiere zu wenig Platz oder werden, wenn sie krank sind, nicht behandelt. Aus Langeweile fressen sie sich häufig gegenseitig Körperteile ab. Sogar in Biohöfen, in denen Hagendorff filmte, sah er «Schweine, die bis zum Bauch im eigenen Kot wateten». Bei der Tötung kommt es häufig zu Fehlbetäubungen; die Tiere bluten bei lebendigem Leibe aus.

Auch Angestellte sind Opfer des Systems

Auch die Angestellten leiden: «Man bewegt Kot von A nach B, sammelt Kadaver ein, Arbeiter schlagen zu schwache Tiere tot oder überlassen sie zum Sterben einfach sich selbst.» Die Umgebung sei «die Hölle»: Es herrsche permanenter Gestank und sei «superdreckig», überall sehe man Ungeziefer.

Aus dem Widerwillen der Arbeitenden entstünden oft Fälle von Sadismus. «Das ist keine Seltenheit, sondern eine traurige Realität, die komplett verdrängt wird», so Hagendorff. Die Angestellten seien meist nicht von sich aus sadistisch, sondern «einfach extrem frustriert».

Viele der in der Tierindustrie Beschäftigten arbeiteten dort nur aus Geldnot. «Die schwierige Situation bestimmter Menschengruppen wird gezielt ausgenutzt, um überhaupt Personal zu finden, das die grausame Arbeit der Tierzüchtung, -mast und -tötung übernimmt. Sie sind auch Opfer dieses Systems.»

Das System – eine Industrie, die in Deutschland im Jahr 2019 umgerechnet 50,8 Milliarden Franken Umsatz machte. Dementsprechend viel wird dort geduldet: «Man spricht von straffrei institutionalisierter Agrarkriminalität. Daher findet man in fast jedem Betrieb Rechtsverstösse.» Von den Gerichten werden Fälle von Tierquälerei in diesem Industriezweig häufig als «notwendiges Übel» dargestellt, das «aus ökonomischen Gründen» notwendig sei, und deshalb nicht verfolgt.

Mit ungebremster Energie im Einsatz für das Tierwohl

Hagendorff ist überzeugt: Die Fleischindustrie funktioniert nur, weil sie so undurchsichtig ist und die Öffentlichkeit ausgeschlossen und getäuscht wird. Statt Haufen toter Ferkel in einem Kadaver-Container sehe man lächelnde Schweinchen auf Tiertransportern. Diese Fassade will Hagendorff durchbrechen. Darum hat er in den Zuchthöfen gefilmt, darum fuhr er letztes Jahr 500 Kilometer am Stück mit dem Velo und darum hat er auch sein neustes Buch geschrieben: «Mein Ziel ist es, dass anhand von mehr Wissen bessere Entscheidungen getroffen werden.»

Bessere Entscheidungen, etwa in der eigenen Ernährungsweise. Damit habe jeder Einzelne einen «riesigen Hebel», um etwas zu verändern. Für Hagendorff heisst das: vollständiger Verzicht auf Tierprodukte.

Mit seiner Velotour habe er auch zeigen wollen, dass man durch vegane Ernährung nicht weniger leistungsfähig wird. Eher im Gegenteil. So setzt sich der Ethiker auch künftig mit ungebremster Energie für das Tierwohl ein.

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