Das Virus war praktisch weg, verschwunden. Während die Welt mit Corona kämpfte, feierten Taiwanesen, Vietnamesen, Singapurer und Thailänder in den vergangenen Monaten das Leben.
Die britische Variante B117 erfasste Europa, auch Südafrika kämpfte mit einer Mutante, in Brasilien kollabierte das Gesundheitssystem wegen P1, nur in Asien blieben die Fallzahlen über Monate hinweg tief. Wenn überhaupt Corona-Infektionen auftraten, dann in der Regel durch Einreisende – die Infizierten wurden direkt am Flughafen entdeckt und mussten ohnehin in Quarantäne.
Das hat sich geändert. In mindestens vier asiatischen Corona-Wunderländern gibt es die grösstenteils heftigsten Ausbrüche seit Pandemiebeginn:
Taiwan
Als eines der ersten Länder schränkte der Inselstaat den Reiseverkehr ein, testete massiv und drückte so die Zahlen für ein Jahr auf praktisch null. «Unser Leben sieht genauso aus wie vorher. Für meine Frau Nancy und mich hat sich wirklich gar nichts verändert», erzählte der Auslandschweizer Jean-Michel Blanc (55), der seit 31 Jahren in Taiwan lebt, Blick im vergangenen November. «Das Virus und die Krankheit existieren hier einfach nicht mehr.»
Die Lockerungen im Land selbst funktionierten – doch Lockerungen nach aussen rächten sich. Im Frühjahr senkte Taiwan die Quarantäne-Vorschriften für Piloten. Auch nicht geimpfte Piloten mussten statt 14 erst nur noch fünf, dann sogar nur noch drei Tage in Quarantäne.
In einem Hotel, in dem neben Piloten in Quarantäne auch inländische Touristen untergebracht waren, kam es zu einem Cluster. Von dort verbreitete sich das Virus in Taiwans «Teehäuser», in denen getrunken und gefeiert wird – die Kontaktnachverfolgung war schwierig, weil Infizierte nicht zugeben wollten, wo sie unterwegs waren. «Das erinnert uns nur daran, dass selbst wenn ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung gegen die Regeln verstösst, dies zu Problemen führen wird», sagte der Professor Lin Hsien-ho von der National Taiwan University der BBC.
Singapur
Im Gegensatz zu Taiwan blieb Singapur stets konsequent. Zwar gab es nach der ersten grossen Welle und einer zweiten kleineren Welle im Juli und August kaum noch Fälle, doch die Corona-Regeln blieben vergleichsweise streng: Das Nachtleben und Massenversammlungen wie Hochzeiten sind beschränkt.
Doch auch in Singapur änderte der zunehmende Reiseverkehr die Lage. Vom Changi-Flughafen – einem wichtigen Drehkreuz, in dem sich ausserdem ein beliebtes Einkaufszentrum mit Food Courts befindet – verbreiteten sich wieder Infektionen. Später positiv getestete Flughafenmitarbeiter hatten in einer Zone gearbeitet, in der sich Reisende aus Hochrisikoländern bewegten. Der südosasiatische Knotenpunkt Singapur ist aktuell praktisch «eingekesselt» von Ländern mit hohen Infektionszahlen.
Einige der Arbeiter assen dann wiederum in den Food Courts des Flughafens, die für die Öffentlichkeit zugänglich sind. Mindestens 78 Fälle lassen sich bereits auf das Changi-Cluster zurückführen.
Vietnam
Ende April verordneten die Behörden die Schliessung aller Bars und Nachtclubs in der Hauptstadt Hanoi – wegen des ersten neuen Coronafalls in 35 Tagen. Der Infizierte: ein 27-Jähriger, der am 7. April aus Japan zurückgekehrt war. Er musste zwar in staatliche Quarantäne und wurde drei Mal negativ auf das Virus getestet, dennoch schleppte er offenbar eine unerkannte Infektion in sein Heimatdorf in der nördlichen Provinz Ha Nam. Kurz darauf liessen sich schon acht Fälle darauf zurückführen.
Mittlerweile gibt es um die 200 neue Fälle pro Tag. Für ein Land mit fast 100 Millionen Einwohnern ist das zwar praktisch nichts – doch die Behörden sind nervös. Das Land fürchtet um seine Position als Produktionszentrum. In Nordvietnam wurden zur Eindämmung der Virusausbreitung bereits vier Industrieparks geschlossen.
Thailand
Schon im Juni wollte Thailand die Touristen-Saison auf Phuket für Geimpfte eröffnen. Nun ist der quarantänefreie Saison-Start unklar. Nach einem monatelangen strengen Shutdown explodieren die Fallzahlen für thailändische Verhältnisse.
Auch hier kam das im Land praktisch eliminierte Virus wieder über die Grenze. Zum Problem wurden dann aber vor allem die Gefängnisse. Am Montag waren 6853 der insgesamt 9635 Neuinfizierten Gefängnisinsassen.
«Viele Menschen haben die thailändischen Behörden gewarnt, dass sie proaktiv handeln müssten, um eine solche Situation zu vermeiden, aber es scheint, dass sie das verschlafen haben», zitiert die «BBC» den Asien-Direktor von Human Rights Watch.
Warum kämpfen die Corona-Wunderländer alle mit Ausbrüchen?
Im Vergleich mit europäischen oder amerikanischen Fallzahlen sind die Ausbrüche noch immer klein. Doch sie zeigen, wie schnell sich das Virus auch Länder mit einer konsequenten Eliminierungs-Strategie («Zero Covid») wieder verbreitet.
Mit Blick auf die asiatischen Länder und Neuseeland, das unter Premierministerin Jacinda Ardern (40) die Infektionszahlen ebenfalls eine «Zero Covid»-Strategie verfolgt, hatten auch zahlreiche europäischen Experten lange gefordert, die Fallzahlen mit harten Massnahmen auf null zu senken. Später schwenkte die Bewegung um, mittlerweile sprechen die führenden Wissenschaftler lieber von einer «Niedriginzidenz-Strategie» – die Fallzahlen also möglichst niedrig zu halten, damit Kontaktnachverfolgung möglich ist und das Gesundheitssystem nicht kollabiert.
In Taiwan, Singapur, Vietnam und Thailand hat «Zero Covid» lange funktioniert. Zum Problem wurde meist erst die Öffnung nach aussen – in Kombination mit versäumten Hygienemassnahmen im eigenen Land: in Gefängnissen, in Produktionsbetrieben oder Arbeiter-Unterkünften.
Vorzeigeländer haben vergleichsweise schlechte Test- und Impfstruktur
Weil Corona auf dem Papier aber als besiegt galt, sind lokale Ausbrüche in den «Wunderländern» teilweise ein blinder Fleck – der erst auffällt, wenn sich das Virus längst grossflächig verbreitet hat. Denn in den vergangenen Monaten haben viele asiatischen Vorbild-Staaten ihre Pandemie-Infrastruktur zurückgefahren. Kaum noch jemand wurde auf das Coronavirus getestet. Bei praktisch null Fällen war es extrem unwahrscheinlich, dass sich etwa hinter einem Fieber Covid-19 verbirgt.
Alle betroffenen Länder müssen nun erst wieder ihre Test- und Behandlungskapazitäten erhöhen. Mehr noch: Weil sie Corona bislang auch ohne Impfungen im Griff hatten, hinkt die Impfkampagne hinterher. In Thailand und Taiwan ist gerade mal ein Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft, in Vietnam sogar nur 0,03 Prozent. Lediglich Singapur liegt mit rund 25 Prozent sogar vor der Schweiz.