«Gott entscheidet»
Holocaust-Überlebende will in Kiew bleiben

Hanna Stryschkowa (80) hat ihre Wohnung in der neunten Etage eines Hauses in der Nähe des Kiewer Regierungsviertels seit Kriegsbeginn nicht verlassen.
Publiziert: 04.04.2022 um 05:42 Uhr
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Aktualisiert: 04.04.2022 um 07:59 Uhr
Eine ukrainische Holocaust-Überlebende (nicht die Protagonistin dieses Artikels) während eines Interviews mit der Nachrichtenagentur AP.
Foto: keystone-sda.ch

Hanna Stryschkowa hat den Holocaust überlebt. Ob sie auch den Krieg in der Ukraine überlebt? Das weiss sie nicht. «Möge es kommen, wie Gott entscheidet», sagt die 80-Jährige, die bei ihrer Tochter Olha in Kiew wohnt.

Der Schwiegersohn Oleh kämpft an der Front. Auch bei Luftalarm bleiben die Frauen in der Wohnung, statt in einen Schutzraum zu gehen.

Nach Angaben der Claims Conference lebten vor dem Krieg rund 10'000 Holocaust-Überlebende in der Ukraine. Die Organisation mit ihrer Zentrale in New York setzt sich für die materielle Entschädigung von Betroffenen ein.

Es sei unklar, wie viele Holocaust-Überlebende bisher geflohen seien, sagt eine Sprecherin. Die meisten würden allerdings vor allem aufgrund von Verwandten vor Ort nach Israel und Deutschland kommen. Deutsche Organisationen versuchen nun, Betroffenen in der Ukraine zu helfen – und bei der Flucht nach Deutschland.

«Zuallererst sollen Kinder gerettet werden»

Der Fotograf und Filmemacher Luigi Toscano (49) aus Mannheim, der Stryschkowa aus Kiew bereits seit Jahren kennt, hat ihr mehrfach angeboten, sie nach Deutschland zu holen. Doch Stryschkowa lehnte ab.

«Ich finde, dass zuallererst Kinder gerettet werden müssen», betont sie. Denn diese seien die Zukunft. Der Schwiegersohn ist in der Armee, und ihre Tochter will Kiew nicht verlassen. «Dann fahr ich etwa allein, und was werde ich dann dort machen? Einen Infarkt erleiden?», fragt sie.

Hanna Stryschkowa hat den Holocaust im deutschen Vernichtungslager Auschwitz überlebt. Das Auschwitz-Museum hat recherchiert, dass sie wohl am 4. Dezember 1943 mit einem Zug aus Minsk ankam. Daher geht sie davon aus, dass sie belarussische Wurzeln habe.

Ihre Zieheltern in Kiew gaben ihr nach Kriegsende ein neues Geburtsdatum, den 1. Mai 1941. «Für mich ist die Ukraine mein Heim, das ist mein Land. Sie hat mich auf die Beine gestellt und mir alles gegeben», blickt die promovierte Biologin auf ihr langes Leben zurück.

Andere Überlebende sind längst geflohen

Stryschkowa lernte Toscano durch ein Fotoprojekt über Holocaust-Überlebende kennen. Für sein Engagement mit dem Projekt «Gegen das Vergessen» erhielt der Künstler 2021 von der Unesco die Auszeichnung «Artist for peace» sowie das Bundesverdienstkreuz.

Toscano sagt, zusammen mit einer Mitarbeiterin der deutschen Botschaft in der Ukraine und einem Netzwerk aus Helfern habe er auch Kontakt zu 25 weiteren Holocaust-Überlebenden in der Ukraine. Das Ziel sei, sie alle in Deutschland in Sicherheit zu bringen. So lange Hanna Stryschkowa noch in der Ukraine sei, organisiere er für sie zumindest Lebensmittel, Medikamente und Geld, sagt der 49-Jährige.

Andere Holocaust-Überlebende sind bereits nach Deutschland geflohen. Der 86-jährige Borys Sabarko wohnt nun mit seiner Tochter und Enkelin in Stuttgart. «Meine Tochter hat gesagt: Du musst deine Enkelin retten», erzählt Sabarko. Seiner Enkelin sei es furchtbar gegangen. Als der Krieg in der Ukraine begann, habe sie viel geweint und tagelang nicht schlafen können. Anfang März flüchtete er mit ihr nach Deutschland, seine Tochter folgte ein paar Wochen später. «Am Bahnhof waren Millionen von Menschen. Alle wollten aus Kiew raus.»

Deutschland hilft den Holocaust-Überlebenden

Sabarko überlebte als kleiner Junge die Massenvernichtung der Juden durch die Nazis in der heutigen Ukraine – von 1941 bis 1944 im Ghetto in Scharhorod. Sabarko flüchtete nun nach Stuttgart, weil er dort Verwandte und Freunde hat. Deutschland habe seine Lehren aus der Geschichte gezogen, sagt der Historiker, der 2009 das Bundesverdienstkreuz erhielt. Das Land versuche alles, damit sich die Vergangenheit nicht wiederhole.

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine sind Tausende Menschen getötet worden. Auch ein Überlebender des Konzentrationslagers Buchenwald kam bei einem Bombenangriff in Charkiw um. Der 96-jährige Boris Romantschenko starb bei einem Angriff auf sein mehrstöckiges Wohnhaus in der ostukrainischen Stadt, teilte die Gedenkstättenstiftung Buchenwald und Mittelbau-Dora vor rund zwei Wochen mit.

Die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten hat zur Unterstützung der Überlebenden der NS-Konzentrationslager aus der Ukraine aufgerufen. Die Stiftung beteiligt sich mit rund 30 weiteren Initiativen, Gedenkstätten und Museen an einem Hilfsnetzwerk für Opfer der NS-Verfolgung in der Ukraine.

Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland hat nach eigenen Angaben mit der Claims Conference bereits mit der Rettung von pflegebedürftigen Schoa-Überlebenden aus der Ukraine begonnen. Die Betroffenen sind demnach zunächst in jüdischen Pflegeheimen untergebracht worden. Zusätzlich würden aufgrund des grossen Bedarfs nun aber auch Verbände wie die Caritas und die Diakonie Plätze in ihren Einrichtungen bereitstellen, hiess es.

Renten in der Ukraine reichen kaum zum Überleben

Für viele Holocaust-Überlebende in der Ukraine war das Leben schon vor dem Krieg schwierig, wie Inna Markowytsch, Frau des Kiewer Oberrabbiners Jonatan Markowytsch, erzählt. «Die durchschnittliche Rente in der Ukraine ist 70 Dollar im Monat. Das reicht nicht, um zu überleben.»

Allein in ihrer Gemeinde mit rund 2500 Mitgliedern hätten sie bereits in der Vergangenheit pro Monat 800 Essenspakete plus Medikamente verteilt und eine Suppenküche unterhalten. Sie hätten dabei 200 bettlägerige Mitglieder versorgt. Hunderte ihrer Gemeindemitglieder sind demnach Holocaust-Überlebende.

Mehrere Betroffene sind mittlerweile auch nach Israel gekommen, wie die für Einwanderung zuständige Jewish Agency bestätigt. Dabei wurde etwa eine 100-jährige Holocaust-Überlebende mit Hilfe des israelischen Rettungsdienstes Zaka aus Kiew gerettet. Israel rechnet in den kommenden Monaten mit der Aufnahme von rund 100'000 Einwanderern aus der Ukraine, die jüdisch sind oder jüdische Verwandte haben - und deshalb zur Einwanderung nach Israel berechtigt sind.

Sabarko lebt nun zwar in Stuttgart, seine Heimat ist und bleibt aber die Ukraine. Er habe nicht weg gewollt, sagt er. «Ich hoffe, dass ich bald wieder zurückkehren kann. Aber ich kann keine Prognose machen, weil ich nicht weiss, wie es weitergeht.» (SDA)

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