Brennpunkt Cherson. Wie geht es mit dem von Russland besetzten Gebiet weiter? Der Westen sieht grosse Verhandlungschancen. Die Ukraine hält an ihren Prinzipien fest. Es herrscht Uneinigkeit. Währenddessen stoppte Russland am Montag die organisierte Evakuierung der Bevölkerung. «Wir haben die Strasse vom linken zum rechten Ufer gesperrt», schrieb Kirill Stremousow (45), der Vertreter der russischen Besatzungsverwaltung des Gebiets Cherson, auf Telegram.
«Die meisten Einwohner, die Cherson nicht verlassen haben, beginnen erst jetzt, den Ernst der Lage und meine Warnungen zu erkennen.» Ab sofort sind sie auf sich alleine gestellt, während der ukrainische Druck zunimmt.
Gespräche zwischen EU und Nato
Eine Rückeroberung des strategisch wichtigen Gebiets würde der Ukraine ganz neue Möglichkeiten bieten, ist sich die USA sicher. Aus Washington wird die Forderung von neuerlichen Verhandlungen laut, schrieb «La Repubblica» am Montag.
Dem Bericht zufolge laufen Gespräche zwischen EU und Nato. Brüssel und Washington diskutiert über einen möglichen Dialog mit Russland nach der Befreiung Chersons. Demnach würde sich ein «kurzfristiges Verhandlungsfenster mit Russland» eröffnen, wenn die Ukrainer die strategisch wichtige Stadt zurückerobern.
«Richtung des Konflikts verändern»
Die italienische Zeitung betont, dass die komplette Niederlage Putins für die Vereinigten Staaten momentan schlimmere Folgen hätte, als eine Einigung am Verhandlungstisch. Bei einer militärischen Pleite würde die Kontrolle des riesigen Gebiets an China übergehen. «Deshalb ist es besser, einen feindlichen Anführer zu haben, geschlagen, aber unabhängig von Peking», schreibt die italienische Zeitung. Zudem wolle die USA das Abschuss-Risiko einer russischen Nuklearwaffe minimieren.
Zum wiederholten Mal spielt der Westen solche Szenarien durch. Aber: Diesmal könne der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (44) aus einer Position der Stärke heraus argumentieren. Denn Cherson ist eine strategisch wichtige Stadt. «Sie zurückzugeben, würde die Richtung des Konflikts für immer ändern», schreibt «La Repubblica».
Bereits zuvor forderten die USA Verhandlungsbereitschaften von der Ukraine. Wie «Washington Post» schreibt, berichten anonyme Quellen, die mit den Gesprächen vertraut sind, dass die Biden-Administration die ukrainische Führung privat dazu ermutigt, ihre Bereitschaft zu Verhandlungen mit Russland zu signalisieren. Zudem soll Kiew seine öffentliche Weigerung, sich an Friedensgesprächen zu beteiligen, aufgeben, wenn Putin nicht von der Macht entfernt wird. Denn die «Ukraine-Müdigkeit» sei «ein echtes Problem», wie ein US-Beamter gegenüber der Zeitung sagte.
Selenski-Berater will nicht mit Putin verhandeln
Die Verhandlungs-Worte aus dem Westen stossen bei den ukrainischen Verantwortlich aber auf wenig Zustimmung. Fühlen sie sich in die Ecke gedrängt? Präsidenten-Berater Mychajlo Podoljak (50) spricht auf Twitter jedenfalls seit Tagen über fast nichts anderes. Am Dienstagmorgen poltert er: «Eine Frage an die ‹Friedenswächter›: Was verstehen Sie unter dem Wort ‹Verhandlungen›? Die russischen Ultimaten sind bekannt: ‹Wir sind mit Panzern gekommen, gebt die Niederlage und den Verlust von Gebieten zu.› Das ist inakzeptabel. Worüber soll man also reden? Oder verstecken Sie das Wort ‹Kapitulation› einfach hinter dem Wort ‹Einigung›?»
Wenige Stunden später twittert er weiter: «Ehrliches diplomatisches Wörterbuch: ‹Waffenstillstand› – Stopp der ukrainischen Gegenoffensive, um Russland Zeit zu geben, Ressourcen wiederherzustellen. ‹Verhandlungen› – Anerkennung der Ultimaten des Kremls. ‹Diplomatische Regelung› – Befriedung der Aggressoren, Gebietsverlust. Vielleicht ist es an der Zeit, mit diesem Wortspiel aufzuhören?»
Für die Ukraine ist klar: Bevor Verhandlungen stattfinden können, muss der Kreml-Chef Wladimir Putin (70) weg. «Russland solle zunächst seine Truppen aus der Ukraine abziehen. Ist Putin dafür bereit? Offensichtlich nicht. Deshalb ist für uns klar: Wir werden mit dem nächsten Staatschef sprechen», schreibt Podoljak. (nab)