«Gefahren zum Ende des Jahrzehnts» – Blick schätzt die Warnung des deutschen Verteidigungsministers ein
So ernst meint es Putin mit einem Angriff auf Europa

Wir hätten «fünf bis acht Jahre» Zeit, um für einen Kriegsfall bereit zu sein. Das sagte der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius. Wie gross ist die Gefahr eines russischen Angriffes auf Europa? Blick beantwortet die wichtigsten Fragen.
Publiziert: 18.12.2023 um 18:59 Uhr
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Aktualisiert: 19.12.2023 um 22:49 Uhr
Panzerparade in Moskau: Die Russen spielen mit den Muskeln.
Foto: Keystone
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Guido FelderAusland-Redaktor

Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius (63, SPD) wählt drastische Worte: «Am Ende des Jahrzehnts könnten Gefahren auf uns zukommen», sagte er in einem Interview mit der «Bild»-Zeitung zum Thema Aufrüstung Russlands. Und er ergänzte, dass wir jetzt «ungefähr fünf bis acht Jahre» hätten, in denen wir aufholen müssten – sowohl bei den Streitkräften als auch in der Industrie und in der Gesellschaft.

Pistorius kritisiert, dass sich nicht alle dieser Gefahr bewusst seien. Dabei sei klar, dass Deutschland bereit sein müsse und Streitkräfte brauche, die das Land «im Kriegsfall» verteidigen könnten.

Macht Pistorius auf Panik, um die Hilfe an die Ukraine am Leben zu erhalten? Oder ist die Gefahr einer russischen Invasion tatsächlich konkret? Wer Experten zuhört, wird überrascht: Entwarnung will hier niemand geben.

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Er plane keinen Angriff auf Europa, sagt Wladimir Putin. Das hatte er schon vor der Invasion in die Ukraine gesagt.
Foto: Getty Images

Wie konkret ist die Gefahr einer russischen Invasion in Europa?

Laut Marcel Berni (35), Stratege an der Militärakademie der ETH, ist die Gefahr derzeit zwar noch «gering». Man müsse aber bedenken, dass der russische Präsident Wladimir Putin (71) kein Interesse an einem Frieden mit dem Westen habe. Berni: «Je erfolgreicher Moskau in der Ukraine ist, desto grösser auch die Gefahr für Europa.»

Ulrich Schmid (58), Russland-Experte an der Uni St. Gallen, sieht ebenfalls keine unmittelbare militärische Gefahr für Europa. Allerdings öffne der Kreml neue politische Fronten. So gebe es russische Destabilisierungsaktionen in Bosnien und in der Moldau.

Berni meint, dass der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius mit seinen Aussagen aufrütteln und – zumindest in Deutschland – ein Umdenken bewirken und zeigen wolle, dass das Appeasement gegenüber Russland vorbei sei. Pistorius wolle die «Zeitenwende» zum Anlass nehmen, die Bundeswehr besser aufzustellen und auszurüsten. «Helfen würde dabei die Wiedereinführung der Wehrpflicht, die Pistorius in Deutschland vermisst», sagt Berni.

Nicht zuletzt gehe es dem Verteidigungsminister um die weitere Unterstützung der Ukraine, die derzeit gefährdet zu sein scheine. Berni: «Die USA könnten sich bald Asien zuwenden und von den Europäern grössere Verteidigungsanstrengungen einfordern.» Nico Lange (48) von der Münchner Sicherheitskonferenz sagts gegenüber «Bild» unverblümter: «Wenn wir schwach sind, wird das Putin brutal ausnützen.»

Was sagt Putin zu einem Angriff auf Europa?

Putin hat am Sonntag beteuert, dass Russland weder Grund noch Interesse daran habe, mit den Nato-Ländern in den Krieg zu ziehen – weder geopolitisch noch wirtschaftlich, politisch oder militärisch.

Doch das Institute for the Study of War (ISW) warnt: «Putins Erklärung, dass Russland kein Interesse an einer Invasion in die Nato habe, ähnelt auch stark den hartnäckigen Behauptungen des Kremls Ende 2021 und Anfang 2022 – sogar bis zum Vorabend der Invasion –, dass Russland nicht die Absicht habe, in die Ukraine einzumarschieren.»

Wie gut gerüstet ist Europa militärisch?

Die meisten europäischen Staaten sind Mitglied der Nato und stehen damit unter dem Schutzschirm der USA. Allerdings gibt es Befürchtungen, dass die USA die Nato verlassen könnten, wenn Donald Trump (77) im kommenden Jahr wieder zum Präsidenten gewählt würde.

Europa hat grossen Nachholbedarf. Berni: «Weil sich die Europäer seit dem Ende des Kalten Krieges auf die USA verlassen haben, fehlt es derzeit in vielen Ländern an Personal, Material und dem nötigen Finanzierungswillen für eine eigenständige Verteidigung.» Hinzu kämen Engpässe in der Rüstungsindustrie durch den Krieg in der Ukraine.

Inzwischen hat man in Europa eine gemeinsame Luftverteidigung beschlossen. An der «European Sky Shield Initiative», die von Deutschland lanciert worden ist, sind inzwischen 19 Ländern beteiligt, darunter auch die Schweiz.

Welche Gefahr droht Finnland?

Nachdem Finnland im April der Nato beigetreten war und in diesen Tagen dem US-Militär ungehinderten Zugang zu 15 Stützpunkten gewährt hatte, kündigte Putin am Wochenende an, bei St. Petersburg aufzurüsten. Er drohte: «Jetzt wird Finnland Probleme bekommen.»

Die Finnen nehmen die Drohung gelassen. «Putins Stellungnahme bedeutet im Grunde nichts Neues. Sie spiegelt eher eine Schwäche als eine Stärke Russlands», sagt Botschafter Valtteri Hirvonen (61). Schon während des Kalten Krieges hätten die Russen bedeutende militärische Fähigkeiten in der Nähe der finnischen Grenze unterhalten, die für den Krieg in der Ukraine abgezogen worden seien. Der Neuaufbau dieser Truppen werde sehr lange dauern.

Das sieht auch Ulrich Schmid so. Er ergänzt: «Möglich ist, dass Russland Atom-U-Boote vor der finnischen Küste patrouillieren lässt.»

Hirvonen betont, dass Finnland national auf alles sehr gut vorbereitet sei. «Wir erhöhen kontinuierlich unsere Bereitschaft und werden unter anderem die Produktion von Munition und Geschossen verdoppeln.» Als Nato-Mitglied könne Finnland nun auf Verbündete zählen, die Russland massiv überlegen seien.

Wie gross ist die Gefahr, dass Russland andere Länder überfällt?

Immer wieder heisst es, dass Putin weitere Staaten wie die Moldau oder Georgien attackieren könnte. Im Moment sind laut Marcel Berni solche Angriffe unwahrscheinlich, da der Grossteil der russischen Truppen in der Ukraine gebunden ist. Berni: «Die Bereitschaft Russlands zu weiteren militärischen Angriffen hängt daher vom Verlauf des Krieges in der Ukraine und der innenpolitischen Lage ab.»

Wie lange können die Russen kriegerisch durchhalten?

Russland erhöht das Militärbudget im kommenden Jahr um knapp 70 Prozent auf 112 Milliarden Dollar. Das sind 6 bis 8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Zum Vergleich: Die USA hatten 2022 ein Militärbudget von 877 Milliarden Dollar (3,5 Prozent des BIP), Deutschland wendete knapp 56 Milliarden auf (1,4 Prozent), die Schweiz 6 Milliarden Dollar (0,8 Prozent).

Wie lange Russland auf Kriegswirtschaft machen kann, ist fraglich. «Noch können die immensen Kosten des Kriegs und der Rüstung durch Erdölverkäufe gedeckt werden», sagt Schmid. Allerdings habe die Inflation zugenommen, und auch der Rubel sei nachhaltig geschwächt, was zu teureren Lebenshaltungskosten und zu erhöhten Preisen für Importgüter führe.

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