Noch heute übernehmen Frauen den Grossteil der Erziehung. Während 2021 rund 80 Prozent der Schweizer Väter Vollzeit arbeiteten, waren es bei den Müttern nur etwa 17 Prozent, wie das Bundesamt für Statistik zeigt. Obwohl viele Frauen sich deshalb zweimal überlegen, ob sie Kinder kriegen wollen, droht hierzulande keine Geburtenkrise. Anders sieht es in Italien aus.
Zahlen der italienischen Statistikbehörde Istat zeigen: In den letzten zwei Jahrzehnten schrumpften die Geburtenrate um 27 Prozent. Vergangenes Jahr kamen nur 393'000 Kinder auf die Welt – so wenig Neugeborene gab es seit Italiens Vereinigung in 1861 noch nie. Istat warnt vor einer Krise. Bis 2070 könnte die Bevölkerung von 59 auf 48 Millionen sinken – mit einem Durchschnittsalter von 50 Jahren.
Mütter brauchen mehr Unterstützung
Die «Financial Times» bezeichnet die sinkende Geburtenrate als «Ergebnis jahrzehntelanger wirtschaftlicher Stagnation und politischer Gleichgültigkeit gegenüber den Bestrebungen der Frauen». Dr. Maria Teresa Gervasi, Leiterin der Abteilung für Geburtshilfe an der Universität Padua, sagte der Zeitschrift: «Frauen mit Kinderwunsch entscheiden sich dagegen, schwanger zu werden, da die soziale Organisation für Mütter schlecht ist. Sie müssen noch immer in erster Linie für ihre Kinder sorgen – ohne staatliche Hilfe.»
Trotzdem versucht Italiens konservative Premierministerin Giorgia Meloni (46), das traditionelle Familienbild wiederherzustellen. Frauen sollen wieder voll und ganz im Muttersein aufblühen und ermutigt werden, die Kinderbetreuung zu übernehmen. Gleichzeitig werden LGBTIQ+-Paare vom Kinderkriegen abgehalten. In-vitro-Fertilisationen sind etwa nur heterosexuellen Paaren gestattet.
Höhere Geburtenraten im Nachbarland
Dass solch altmodischen Familienbilder die Geburtenkrise abwenden können, bezweifelt Maria Letizia Tanturri, Demografin an der Padua Universität: «Alles basiert auf der Idee, dass Mütter zu Hause bleiben». Selbstentfaltung und Karriere lassen sich somit nur schwer mit Kindern vereinen.
Staatliche Kindergärten sind in Italien rar, private Kindergärten für viele unbezahlbar. Zudem endet die Schule meist früh – und Betreuungsangebote für den Nachmittag fehlen. Für viele Frauen bedeuten Kinder daher vor allem eins: Verzicht auf Karriere, Freizeit und Geld. «Hier geht man davon aus, dass man sein Leben verliert, wenn man Mutter wird», so Tanturri zur «Financial Times».
In Schweden, Deutschland und Frankreich sieht es anders aus. Dort setzt man auf staatliche Unterstützung von Müttern, damit sich Karriere und Mutterschaft vereinbaren lassen. So wurde etwa die staatliche Kinderbetreuung ausgebaut. Auch flexible Arbeitszeiten sowie Geschlechtergleichstellung wurden gefördert – mit Erfolg: In Schweden liegt die Geburtenrate bei 1,66, in Deutschland bei 1,53 und in Frankreich sogar bei 1,83. Die Schweiz hinkt mit 1,46 leicht hinterher – Grund dafür könnten auch hier vergleichbar niedrige Sozialleistungen sein.