Rund fünf Stunden lang stürmten am vergangenen Sonntag Tausende von Anhängern des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro (67) alle drei Instanzen der brasilianischen Regierung – den Kongress, den Obersten Gerichtshof und den Präsidentenpalast. Sie überwältigten die Sicherheitskräfte und forderten den Sturz des linken Amtsinhabers Luiz Inácio Lula da Silva (77).
Die Gewalt hat das Land schockiert. Wie konnte es so vielen Menschen gelingen, praktisch ohne Widerstand in einige der am stärksten gesicherten Gebäude des Landes einzudringen? Es stellt sich die Frage, ob die mit dem Schutz des Gebiets beauftragten Sicherheitskräfte einfach überfordert waren oder ob sie die Demonstranten sogar aktiv unterstützt haben.
Für Präsident Luiz Inácio Lula da Silva ist der Fall klar. «Die Polizei von Brasilia hat die Anschlagsdrohung vernachlässigt, der Geheimdienst von Brasilia hat sie vernachlässigt», behauptete Lula einen Tag nach der Belagerung. «Es gab eine ausdrückliche Absprache zwischen der Polizei und den Demonstranten.»
Geheimdienst soll von Protest-Plänen gewusst haben
Allerdings betont der brasilianische Präsident, dass er die Ereignisse vom 8. Januar nicht als «Putsch» betrachte, sondern als eine «kleinere Sache, eine Bande von Verrückten, die nicht begriffen haben, dass die Wahl vorbei ist.» Trotzdem gilt es zu klären: Wie konnte das alles passieren? Ein Bericht von CNN gibt nun Einblicke, wie der Protest so eskalieren konnte.
Demnach sollen die Proteste vom Sonntag bereits Tage zuvor offen im Internet organisiert worden sein. Auch der brasilianische Geheimdienst bekam offenbar Wind von der Sache. Von CNN gesichtete Telegram-Konversationen zeigen, dass Bolsonaro-Anhänger bereits am 5. Januar über ihre Absichten, den brasilianischen Kongress zu stürmen, kommunizierten.
In einem Beitrag wird der Plan erwähnt, die Handy-App Zello zu verwenden. Diese kann nämlich, im Falle, dass das Internet unterbrochen wird, wie ein Walkie-Talkie benutzt werden. Dieselbe App wurde bereits am 6. Januar 2021 von einigen Randalierern im US-Kapitol verwendet.
Der brasilianische Geheimdienst gab bekannt, dass er die Regierung und die Bezirksregierung von Brasilia bereits vor dem 8. Januar gewarnt hatte, dass die Proteste gross und gewalttätig sein würden, wie CNN Brasil berichtet.
Polizisten wurden überrannt
Der Geheimdienst stützte sich dabei auf eine Warnung der brasilianischen Verkehrsbehörde, wonach ungewöhnlich viele Busse nach Brasilia gechartert worden waren. Sowohl Justizminister Flávio Dino (54) als auch der inzwischen suspendierte Gouverneur von Brasilia, Ibaneis Rocha (51), ein Verbündeter Bolsonaros, wurden laut dem Nachrichtendienst informiert.
Trotz der Warnungen erklärte Rocha am 7. Januar gegenüber dem Nachrichtenportal Metropoles, dass der Protest auf der Esplanade stattfinden würde – einer von Regierungsgebäuden umgebenen Rasenfläche, die direkt zu den Sitzen der brasilianischen Macht führt.
Als die Demonstranten dann einen Tag später am 8. Januar wie geplant in Scharen auf die Strasse gingen, stiessen sie auf wenig Widerstand. Zu Beginn der Krawalle am 8. Januar waren lediglich 365 Militärpolizisten in dem Gebiet im Einsatz.
Die Militärpolizei versuchte gegen 14.25 Uhr Ortszeit, die Demonstranten an der Esplanade der Ministerien entlang des Eixo Monumental zu stoppen – erfolglos. Sie wurden schnell von den Demonstranten überrannt, welche die Barrikaden durchbrachen. Zwar versuchte die Polizei noch, einige Randalierer mit Pfefferspray aufzuhalten, doch auch diese Methode erwies sich als zwecklos.
Fünf Stunden pures Chaos
Gut 20 Minuten später, gegen 14.45 Uhr Ortszeit, kam die Menschenmenge dann vor dem Kongress an. Auf verschiedenen Videos ist zu sehen, wie einige Einheiten der Bundes- und Militärpolizei weiter versuchten, den Bolsonaristas den Weg zu versperren. Da die Barrikaden weg waren, hatten diese aber leichtes Spiel. Das sahen schliesslich auch die Polizisten ein. Einige fingen an, die Szene passiv zu beobachten. Einer filmte sogar, wie die Demonstranten auf das Dach des Kongresses kletterten.
Nachdem Präsident Luiz Inácio Lula da Silva schliesslich gegen 18 Uhr Ortszeit eine Intervention der Bundespolizei autorisiert hatte, wurden weitere 2913 Beamte hinzugezogen, wie ein Sprecher des geschäftsführenden Bundesdistrikts gegenüber CNN erklärte.
Gegen 19 Uhr Ortszeit schafften es Polizei und Armee nach mehreren Stunden des puren Chaos die Lage endlich unter Kontrolle zu bringen. Die Menge strömte vom Dach des Kongresses und verliess das Regierungsgebäude. (ced)