Es sind gigantische Zahlen: 90'000 Soldaten, 50 Schiffe, 80 Kampfflugzeuge und 133 Panzer. «Standhafter Verteidiger» – auch der Name des grössten Nato-Manövers seit 35 Jahren hat eine klare Botschaft. In den viermonatigen militärischen Übungen wollen 31 Bündnispartner zeigen, dass sie einer russischen Invasion standhalten würden. Denn es droht ein grosser Krieg. Der schwedische Zivilverteidigungsminister Carl-Oskar Bohlin (38) warnte: «Es könnte Krieg in Schweden geben.» Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius sieht es gleich: «Wir haben noch fünf bis acht Jahre Zeit.» Blick beantwortet die wichtigsten Fragen zur historischen Nato-Übung.
Wie sieht das grösste Nato-Manöver aus?
Mit dem Auslauf des US-Landungsschiffs «USS Gunston Hall» aus der kanadischen Marinebasis in Norfolk am 24. Januar 2024 begann die grösste Nato-Übung seit Ende des Kalten Krieges. Bis zum 31. Mai 2024 werden 90'000 Nato-Soldaten am militärischen Manöver namens «Steadfast Defender» (auf Deutsch «Standhafter Verteidiger») teilnehmen. 50 Schiffe von Flugzeugträgern, über 80 Kampfflugzeuge, Helikopter und Drohnen sowie 1100 Kampffahrzeuge, darunter 133 Panzer, werden für Übungen von Nordamerika bis zur Ostflanke der Nato nahe der russischen Grenze eingesetzt. Geübt wird eine schnelle Verlegung von nationalen und multinationalen Truppen an die Nato-Ostflanke. Das Manöver beinhaltet Land-, Luft-, See-, Cyber- und Weltraumoperationen und die Entsendung von Streitkräften aus Nordamerika nach Europa.
Wer ist am Manöver beteiligt?
31 Nato-Staaten plus Beitrittsland Schweden nehmen an der Grossübung teil. Schauplätze des Manövers sind Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, die Slowakei, Ungarn, Deutschland, Griechenland, Norwegen, Schweden und Grossbritannien. Das Vereinigte Königreich, Norwegen, Finnland und Schweden üben die Verteidigung der nordöstlichen norwegischen Grenze zu Russland, die als Schwachstelle der Nato gilt. Die deutsche Bundeswehr trainiert mit 12'000 Soldaten an einem vierstufigen Manöver mit dem Namen «Quadriga 2024» die schnelle Verlegung von Kräften an die Nato-Ostflanke. Die Briten sind mit rund 20'000 Soldaten der See-, Luft- und Landstreitkräfte dabei. Zudem ist der Einsatz von über 3500 Fahrzeugen, darunter 100 Kettenfahrzeuge inklusive Panzer aus den USA, Spanien und Frankreich geplant. Polen, Litauen und die Niederlande sichern unterdessen die sogenannte Suwalki-Lücke, über die das Baltikum von Resteuropa getrennt werden könnte.
Warum findet das Nato-Manöver gerade jetzt statt?
Es ist kein Zufall, dass fast genau zwei Jahren nach Beginn der Invasion Russlands auf die Ukraine, die Nato-Partner einen kriegerischen Ernstfall proben. Wladimir Putin (71) und seine Vertrauten haben immer wieder Appetit auch auf andere Staaten signalisiert, sollte der Krieg mit der Ukraine siegreich beendet sein. Deutschlands Verteidigungsminister Boris Pistorius (63) warnte bereits mehrfach, dass Russland in den kommenden Jahren durchaus Nato-Länder angreifen könnte. Auch die Regierungschefs im Baltikum, Skandinaviens und Osteuropas sowie Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg (64) halten die Bedrohung durchaus für real. Selbstbewusst stellt Nato-Oberbefehlshaber Christopher Cavoli (60) fest, dass das Militärbündnis erstmals seit drei Jahrzehnten wieder eine klare Strategie und konkrete Verteidigungspläne habe. Es würde «Einheit, Stärke und Entschlossenheit» zeigen, so der US-General.
Wie reagiert Russland auf die Nato-Truppenbewegungen?
Das Manöver bleibt nicht unbemerkt in Russland. Schon vor Beginn der Truppenbewegungen warnte das Aussenministerium in Moskau vor «tragischen Folgen». Der ehemalige russische Ministerpräsident und enge Vertraute von Wladimir Putin, Dmitri Medwedew (58), drohte öffentlich, die militärischen Übungen könnten einen «grossen Krieg» provozieren. Putin selbst macht innenpolitisch Mut. Die russischen Waffen seien denen der Nato überlegen und die russische Verteidigungsindustrie legten ein gutes Tempo an den Tag, sagte der Kreml-Chef gegenüber russischen Staatsmedien.
Was passiert mit der Nato, wenn Trump wieder US-Präsident wird?
Die bislang omnipotenten USA sind im Wahljahr zu einem Wackelkandidaten für das Nato-Bündnis verkommen. Sollte Donald Trump (78) tatsächlich wieder zum nächsten US-Präsidenten gewählt werden, könnte er seine Streitkräfte aus der Allianz abziehen. Damit hatte der Republikaner bereits in seiner ersten Amtszeit (2016–2020) gedroht. Ohne die USA würde die Nato den nuklearen Schutzschirm verlieren. Zwar verfügen Frankreich und Grossbritannien über nukleare Waffen, doch ihre Arsenale sind viel kleiner als jene der Amerikaner. Zudem fehlt es den Europäern an taktischen Atomwaffen. Um Europa effektiv gegen einen Angriff aus Russland zu schützen, bräuchte es, ohne die USA, eine europäische Armee, die selbst nuklear aufrüstet. Bereits jetzt werden in verschiedenen europäischen Staaten, auch in Deutschland, Rufe nach eigenen nuklearen Waffen laut.