Wenn es um Extremismus geht, fackelt Deutschland nicht lange. Die Liste der Organisationen und Gruppierungen, die vom Verfassungsschutz als extremistisch eingestuft werden, ist lang: Allein neun Organisationen sind verboten, weil sie mit «auslandbezogenem Extremismus» in Verbindung gebracht werden. 20 weitere, weil sie Bezug zum islamistischen Terrorismus haben.
So auch die «antisemitische und extremistische» Palästinenser-Gruppe Samidoun, die seit Anfang November auf der Liste zu finden ist. Denn: «Antisemitismus hat in Deutschland keinen Platz, wir werden ihn mit aller Kraft bekämpfen», erklärte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (53) die Massnahme. Zeitgleich trat Anfang Monat auch das Verbot der Terrorgruppe Hamas, die Israel Anfang Oktober angriffen, in Kraft. Anders ist das in der Schweiz.
Wer nicht zu Gewalt aufruft, ist nicht extremistisch – oder?
Hierzulande kann man offen demokratiefeindlich sein und das äussern. Solange man weder zu Gewalt aufruft, noch Gewalt ausübt, werden die Behörden nicht aktiv. Das erklärt Dirk Baier, Extremismus-Experte der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, im Gespräch mit Blick. Kein Wunder also, dass sich viele in Deutschland verbotene Gruppierungen und Organisationen als Alternative in die Schweiz absetzen.
Neonazi-Konzerte, Anbieter für Konversionstherapien, islamistische Gruppierungen, die Reichsbürger und Staatsverweigerer – all das ist in Deutschland verboten, in der Schweiz aber nicht. Auch die inzwischen verbotene Samidoun-Gruppierung. Wie die «NZZ am Sonntag» Ende Oktober berichtete, ist das Netzwerk bereits seit einiger Zeit in der Schweiz aktiv. Gehandelt hat der Schweizer Nachrichtendienst bisher aber nicht.
Ist das jetzt also die deutsche Verbotskultur – oder bereits Schweizer Naivität? Baier meint: «Man kann nun darüber streiten, ob die Schweizer Perspektive gut oder schlecht ist.» Er selbst würde sich aber wünschen, dass die Schweiz «schneller rote Linien definiert». Er sagt: «Wir wissen, dass die Verbreitung extremistischer Ideen eine Vorstufe der extremistischen Gewaltanwendung sein kann; insofern müssten wir schneller auch rote Linien in Bezug auf die Verbreitung von Ideologien definieren.»
Auch die Schweizer Politik reagiert inzwischen entsprechend. SVP-Nationalrat Alfred Heer (62) fordert gegenüber der «NZZ am Sonntag» ein Verbot auf nationaler Ebene, in Basel reichte SVP-Grossrat Joel Thüring (39) eine Interpellation ein. Ausserdem fordert er, dass Veranstaltungen der Samidoun auf dem Kantonsgebiet verboten werden.
Durch den zurückhaltenden Umgang der Schweiz mit Gruppierungen wie den Reichsbürgern oder eben Samidoun würden diese Gruppierungen die Schweiz als Rückzugsort entdecken, so Dirk Baier. Zwar würde das nicht zwangsweise bedeuten, dass in der Schweiz mehr extremistische Taten verübt werden. Doch die Schweiz würde als Mekka für die strategischen Köpfe dieser Gruppierungen werden, warnt der Extermismus-Experte. «Und das kann ja nun nicht das Ziel der Schweiz sein: Zur Destination extremistischer Auswanderer zu werden.»