Experten über verschärfte Nuklearwaffen-Rhetorik in Russland
«Westen könnte russische Atomdrohungen falsch einschätzen»

Das atomare Damoklesschwert hängt seit Beginn des Ukraine-Kriegs über Europa. Nun diskutiert die russische Elite wieder vermehrt über das Thema. Was das bedeutet, schätzen zwei Experten ein.
Publiziert: 23.06.2023 um 11:10 Uhr
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Aktualisiert: 23.06.2023 um 15:07 Uhr
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Sergei Karaganow, ein russischer Politikwissenschaftler, droht dem Westen mit atomaren Angriffen.
Foto: Wikipedia / Dmitry Rozhkov
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Chiara SchlenzAusland-Redaktorin

Soll Russland einen Atomangriff gegen den Westen ausüben – oder nicht? Das ist die Frage, mit der sich die politische und wissenschaftliche Elite in Russland in den vergangenen Wochen sehr intensiv auseinandergesetzt hat. «Noch nie zuvor habe ich eine so intensive öffentliche Debatte über den Einsatz von Atomwaffen gesehen», twittert Hanna Notte, Expertin für Russlands Sicherheits- und Aussenpolitik am Wiener Zentrum für Abrüstung und Non-Proliferation, am Mittwoch.

Die hitzige Debatte ausgelöst hat ein Artikel des russischen Politikwissenschaftlers Sergei Karaganow (70): «Nur der Einsatz von Atomwaffen kann die Menschheit vor einer globalen Katastrophe retten.» In dem Beitrag für das russische Magazin «Profile» argumentiert er, dass nur ein präventiver Einsatz von Atomwaffen dem Westen klarmachen kann, wie gefährlich Russland wirklich ist. «Diese Angst muss wiederbelebt werden. Sonst ist die Menschheit dem Untergang geweiht.» Erst dann könne man den Konflikt zwischen Russland und dem Westen beilegen.

Wie ernst er seine Drohung – die er auf rund neun A4-Seiten ausführt – meint, bleibt unklar. Zu betonen gilt zudem, dass er zwar Kremlchef Wladimir Putin (70) und Aussenminister Sergei Lawrow (73) sehr nahestehen soll, selbst aber keinerlei politisches Gewicht hat.

Gründe für Nuklearschlag noch nicht gegeben

Gereicht hat es trotzdem, um andere Politikwissenschaftler auf den Plan zu rufen. Während einige verhalten Beifall klatschen, warnen andere: Ein Atomangriff darf nie geschehen. Könnte aktuell auch nie geschehen. Denn die russische Nukleardoktrin sehe klar vor, wann Atomwaffen eingesetzt werden dürften – und wann eben nicht. Darin heisst es: «Die Russische Föderation betrachtet Atomwaffen ausschliesslich als Mittel der Abschreckung, deren Einsatz eine extreme und notwendige Massnahme darstellt.»

Alexander Sorg ist Forscher an der Vrijen Universiteit Amsterdam und befasst sich in seiner Forschung unter anderem mit im Ausland stationierten Atomwaffen in Militärbündnissen. Auch er betont im Gespräch mit Blick: «Problematisch wird es, wenn Putin das Gefühl bekommt, dass er – und damit der Staat Russland – bedroht wird.» Heisst: Wenn Angriffe auf Russland zunehmen. «Die Gründe, einen Nuklearschlag zu provozieren, sind aktuell also nicht erfüllt.»

Dass die aktuellen Debatten zudem öffentlich und teilweise auf Englisch ausgetragen werden, deutet für Sorg vor allem auf Propaganda hin. Aktuell gebe es ausserdem keine verdächtigen Bewegungen von atomaren Waffen in Russland. Trotzdem warnt er: «Solange Russland nukleare Waffen hat, kann es diese auch benutzen.»

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«Es besteht die Gefahr, dass der Westen die russischen Nukleardrohungen falsch einschätzt.»
Ulrich Kühn, Experte für «Rüstungskontrolle und Neue Technologien» an der Universität Hamburg
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Doch auch wenn es bei den ganzen Artikeln nur um russische Angstmacherei gegenüber dem Westen geht: Laut Ulrich Kühn, Leiter des Forschungsbereichs Rüstungskontrolle und Neue Technologien am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, ist die aktuelle Situation nicht auf die leichte Schulter zu nehmen: «Es besteht die Gefahr, dass der Westen die russischen Nukleardrohungen falsch einschätzt.»

Konkret erkennt er zwei Probleme. «Wenn er sie überschätzt, könnte das die weitere Lieferung militärischen Geräts an die Ukraine negativ beeinflussen» Und: «Wenn er sie unterschätzt, könnte er unbeabsichtigt Russlands ‹rote Linien› überschreiten. Dieser Balanceakt wird in den kommenden Wochen und Monaten wahrscheinlich noch prekärer.»

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