Wenn sich jemand mit Israel auskennt, dann ist es wohl Yuval Diskin (67). Von 2005 bis 2011 leitete er den Inlandsgeheimdienst Schin Bet. Gegenüber dem «Spiegel» erzählt er, was er von dem aktuellen Krieg hält – und wieso die Zerstörung der Hamas unmöglich ist.
Für Diskin bedeutet der Grossangriff vom 7. Oktober vor allem eins: ein Versagen Israels. Im Interview mit der Zeitung erklärt er: «Unsere Armee, unsere Politiker, alle scheinen geglaubt zu haben, die Ruhe hier halte ewig. Wir haben eine strategische Überraschung erlebt. So viele Tote, ermordet auf israelischem Staatsgebiet, gab es noch nie. Bisher haben wir es immer geschafft, Kampf und Krieg ausserhalb unserer Grenzen zu führen.»
Das Vertrauen in Israels Regierung ist seither gebrochen – sowohl bei der Bevölkerung als auch bei Diskin. Er erzählt: «Ich fühlte, wie sich diese Menschen gefühlt haben: betrogen von ihrem Staat, von ihrer Armee.» Deshalb ist für den Ex-Geheimdienst-Chef klar: «Die Geiseln sollten unsere Priorität sein.» Ihr Leben zu retten sei wichtiger, als die Hamas zu zerstören. «Nur so können wir als Staat das Vertrauen unserer Bürger zurückerlangen.»
«Unsere Gesellschaft wird immer extremistischer»
Obwohl der blutige Angriff überraschend kam, passierte er laut Diskin nicht aus heiterem Himmel. Seit Jahrzehnten kommt es immer wieder zu gewaltvollen Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und Israelis – insbesondere in den von Israel besetzten Gebieten. Diskin mahnt: «Das hängt alles zusammen. Israel hat sich in Teilen in eine extremistische Gesellschaft verwandelt, in der messianische Bewegungen, Nationalreligiöse und Siedler den Ton angeben.» Gleichzeitig habe man der Hamas «alle Zeit der Welt gegeben, dieses Massaker zu planen».
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Verantwortlich für diese Entwicklungen macht Diskin Ministerpräsident Benjamin Netanyahu (74). «Er hat uns an den Rand eines Bürgerkriegs gebracht, hat die Israelis gegeneinander aufgehetzt, hat verurteilte Extremisten zu Ministern ernannt und dabei geglaubt, auf diese Weise alles und alle kontrollieren zu können.»
Besonders im Westjordanland sei die Lage schlimm: «Die fanatischen extremistischen Siedler bedrohen die palästinensischen Bewohner, manchmal töten sie sogar. Es macht mich traurig, zu sehen, dass die Regierung das toleriert. Ich und andere, wir warnen seit Jahren, dass unser Land immer extremistischer wird.» Für Diskin steht fest: Dafür, was Netanyahu «mit dem Land gemacht hat», wird er früher oder später bezahlten müssen.
«Eine Ideologie kann man nicht wegbomben»
Die Schuld sieht Diskin aber nicht nur bei der Regierung. Was am 7. Oktober passierte, sei ein «Kampf der Kulturen» gewesen. Er erklärt: «Hamas ist der palästinensische Ableger der Muslimbrüder. Die Islamisten erheben Anspruch auf für sie genuin muslimisches Land. Ihre Mission: ein islamischer Staat». Zwar gäbe es laut Diskin «unendlich viele Muslime, die nicht so denken», doch mahnt er, «die Muslimbrüder, die ticken so.»
Aufgrund der tief verankerten Ideologie zweifelt der Ex-Geheimdienst-Chef daran, dass Israel die Hamas jemals zerstören kann. «Die Hamas wird es weiterhin geben, eine Ideologie kann man nicht wegbomben. Man kann nur ihre militärischen Kapazitäten reduzieren und dafür sorgen, dass die Islamisten nicht mehr regieren.»
Andere Experten haben bereits gemahnt, dass der blutige Krieg in Gaza sogar dazu führen könnte, dass sich nach Ende des Krieges noch mehr Menschen der Hamas anschliessen, angefeuert durch das Trauma und die Wut der aktuellen Aggressionen.
USA bestimmt Zeitfenster des Krieges
Wann genau der Krieg vorbei sein wird, ist allerdings unklar. Diskin glaubt, dass er höchstens ein oder zwei Monate weitergehen kann. Grund dafür seien die US-Wahlen. «Es ist nicht Israel und auch nicht Netanyahu, der hier irgendwas kontrolliert. Die Wahlen in den USA bestimmen das Zeitfenster für diesen Krieg – und der Krieg hier ist nicht gut für US-Präsident Joe Biden. Biden steht zu Israel wie kein US-Präsident zuvor. Aber selbstverständlich möchte er etwas dafür: mitbestimmen, was wir in Gaza machen. Biden braucht Ruhe.»
Auch was nach dem Krieg kommt, ist weitgehend unklar. Diskin spekuliert, dass Israel den Norden des Gazastreifens regieren könnte. «Aber im Süden wird die Hamas wohl überleben.» Der «einzige Weg raus aus diesem Konflikt» sei trotzdem ein «regionales Abkommen, an dem Israel, die Palästinenser, aber auch Jordanien und Ägypten beteiligt sind.» Eine militärische Besetzung des Gazastreifens könne Israel keine Sicherheit gewährleisten. «Auf lange Sicht gibt es da nur eine Sache: Frieden.» (mrs)