«Es droht uns eine Zeit der Wölfe»
Das Ende des europäischen Zeitalters

Die Alte Welt wirkt müde. Deutschland hat einen Kater. Dank Donald Trump gilt jetzt erst recht «America first». Rund um den Erdball erstarken autoritäre Regimes. Europa prägte 500 Jahre Weltgeschichte. Das war einmal.
Publiziert: 10.11.2024 um 00:08 Uhr
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Aktualisiert: 10.11.2024 um 17:27 Uhr
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Was ändert sich mit ihm?
Foto: Getty Images

Auf einen Blick

  • Trumps Wahl markiert einen entscheidenden Wendepunkt
  • Europa ist internen und externen Belastungen ausgesetzt
  • 47 Prozent der Latino-Männer stimmten für Trump
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.

Das europäische Märchen begann mit einem Irrtum.

«Diese Leute sind wohlgeformt, mit hübschen Körpern und guten Gesichtern», notierte der Kapitän, wobei sie auch «leichtgläubig» seien und sich über jedes noch so mickrige Geschenk freuten, ob rote Mützen, Perlen «und sogar zerbrochene Glas- und Tonwaren». Von Waffen hätten sie «keine Ahnung», sie packten Schwerter an der Klinge und verletzten sich dabei.

So beschrieb der Entdecker Christoph Kolumbus (1451–1506) die Eingeborenen, die er 1492 auf den Bahamas antraf – und glaubte, südlich von Japan gelandet zu sein. Es sollte nicht das letzte Missverständnis bleiben. Bei einer weiteren Überfahrt wähnte er sich wegen des Fundes einiger Nuggets in Ophir, der sagenumwobenen biblischen Stätte, von der einst das Gold für Salomons Tempel gekommen sein soll. Tatsächlich befand er sich an der Mündung des Orinoko im heutigen Venezuela.

Durch die Entdeckung der Neuen Welt öffnete sich ein Kapitel der Menschheitsgeschichte, das der Oxford-Byzantinist Peter Frankopan (53) in seinem 2015 erschienenen Weltbestseller «The Silk Roads» («Die Seidenstrassen») so zusammenfasst: «Plötzlich war der Kontinent nicht mehr der Endpunkt einer Reihe von Seidenstrassen; Europa war im Begriff, zum Mittelpunkt der Welt zu werden.»

Mittelpunkt der Welt blieb Europa für die nächsten Jahrhunderte. Das spanische und portugiesische Weltreich. Die Renaissance. Das niederländische Handelsnetz, der Kolonialismus, das britische Empire. Die Ideen der Aufklärung, die Industrialisierung. Europa, die politische, wirtschaftliche und kulturelle Übermacht.

Erst zwei Weltkriege, der Kalte Krieg und die aufstrebende Superpower USA brachten einen Prozess des langsamen Bedeutungsverlusts mit sich. Das Gravitationszentrum verlagerte sich nach Asien. Und die Herrscher der New Economy sitzen in Amerika.

Dort kam es diese Woche zu einem historischen Ereignis, das die europäische Tragödie zu besiegeln scheint: die Wahl von Donald Trump (78) zum US-Präsidenten.

Trumps Comeback ist vielleicht sogar der entscheidende Kipppunkt dieser Entwicklung.

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Isolation statt Zusammenarbeit

Weltweit sind die ehemaligen Blockfreien auf dem Vormarsch, angeführt von China und Brasilien, verbündet mit autoritären Regimes wie Russland oder Iran. Der alte neue Herr im Weissen Haus ist kein Mann der internationalen Allianzen. Er verspricht seinen Wählerinnen und Wählern das Gegenteil: America first. Der Zeitgeist lechzt nach starken Männern.

Das steht im krassen Gegensatz zur Situation Europas: Der Alte Kontinent driftet politisch auseinander, die Europäische Union steckt in der Krise. Im Innern sägen populistische Bewegungen an Brüssels Legitimation. Von aussen steigt der Migrationsdruck aus Nahost und Nordafrika.

Und Deutschland, die wichtigste Nation der Union? Ihr Motor stottert. Die Autoindustrie steckt in einer Krise, die Manager von Volkswagen und Mercedes haben die chinesische Konkurrenz verschlafen und das ökonomische Rückgrat der Nation in die Gefahrenzone geführt. Meldungen über Gewinnwarnungen und Entlassungen häufen sich. Mit dem Protektionisten Donald Trump, der «german cars» am liebsten mit Strafzöllen eindecken würde, stehen die Zeichen nicht eben besser.

Als ob dies nur ein Menetekel gewesen wäre, platzte am Mittwoch die Ampel-Koalition in Berlin. SPD-Kanzler Olaf Scholz (66) entliess den liberalen Finanzminister Christian Lindner (45). Deutschland, ja ganz Europa, scheint führungslos. Scholz will die geforderten Neuwahlen bis 2025 hinauszögern, und sein grüner Vize macht ihm das Amt streitig. Chaostage in Berlin, Konsternation in Brüssel – Jubel in Peking und Moskau. Um die einstige Achse Berlin–Paris steht es nicht zum Besten. Emmanuel Macron rief am Gipfeltreffen in Budapest Europa dazu auf, «Stärke und Unabhängigkeit» zu zeigen. Der Appell von Frankreichs Präsident wirkt verzweifelt – und passt damit bestens ins Bild.

Der bisherige FDP-Justizminister Marco Buschmann (47) schildert die Lage in seinem Rücktrittsschreiben in dramatischen Tönen: «Die derzeitige Stagnation unserer Wirtschaft beschleunigt (...) die Zentrifugalkräfte der Gesellschaft.» Es drohen eine «Nullsummen- oder gar Schrumpf-Logik» sowie «brutale Verteilungskämpfe, weil man nur noch etwas gewinnen kann, indem man anderen etwas wegnimmt». Die «Verrohung der Debattenkultur» in den letzten Jahren falle nicht zufällig in eine Zeit wirtschaftlicher Rückschläge.

Auch für die Vorgänge in den USA findet Buschmann drastische Begriffe: «Es droht uns eine Zeit der Wölfe, in der zunehmend wieder Hobbes' Wort vom ‹homo homini lupus› gilt.»

Selbst Latinos wählten Trump

Wie ist es Trump gelungen, dass europäische Politiker die Rückkehr der Wölfe befürchten? Dem verurteilten Straftäter, der den Sturm aufs Kapitol anheizte, der das halbe Land persönlich beleidigte und der nach eigenen Worten nichts dagegen hätte, wenn Journalisten vor seinen Augen erschossen würden?

Eine mehrwöchige USA-Reise auf dem Höhepunkt des Wahlkampfs machte klar: Der alte und neue Präsident verdankt seinen Coup für die Geschichtsbücher längst nicht nur zornigen weissen Männern, sondern einer breiten multiethnischen und multikulturellen Allianz. Ein Beispiel: 47 Prozent aller wahlberechtigen Latino-Männer stimmten für ihn – trotz seines harschen Migrationskurses und seiner despektierlichen Äusserungen über Mexikaner.

«Das ist jetzt nicht die Zeit für Experimente. Und eine schwarze Frau als Präsidentin wäre ein Experiment», sagt der mexikanisch-stämmige Josh (23) und räumt Gemüse in die Kisten eines Supermarkts in Oakland, Kalifornien: «Kein fremder Präsident würde sie ernst nehmen.» Und sowieso gehe es jetzt erst mal darum, den Kapitalismus zu retten. «Und das kann Trump besser», erzählte Josh dem Blick-Reporter Mitte Oktober.

Entscheidend ist die Hoffnung auf wirtschaftlichen Aufschwung, den die Wähler eher dem «Businessman» Trump zutrauen. Und Anthony Scaramucci (60), kurzzeitiger Kommunikationschef im Weissen Haus während Trumps erster Amtszeit, ergänzt in seinem Podcast «The Rest is Politics US»: Trump gebe den in den USA lebenden Latinos mit seiner harschen Rhetorik über hereinströmende Migranten das Gefühl, sie gehörten dazu, seien Teil der «In-Gruppe», die man gegen die neuen Ankömmlinge verteidigen müsse.

Auch unter schwarzen Amerikanern schnitt Trump besser ab als vor vier Jahren. 16 Prozent warfen für ihn ein – und nicht für die schwarze Präsidentschaftskandidatin. «Die Demokraten haben unsere Zuneigung allzu lange für selbstverständlich gehalten», sagte die schwarze Autorin Pamela Denise Long schon vor den Midterm-Wahlen 2022. «Wir bestimmen selbst, wen wir wählen!» Eine aktuelle Umfrage der «New York Times» zeigt, dass besonders viele junge schwarze Männer den Umstand positiv werten, dass Trump ein verurteilter Straftäter ist. Der Republikaner wird dadurch zur Identifikationsfigur mit «Street Credibility», also höchster Glaubwürdigkeit.

Nicht zuletzt führen Trumps Reichtum, sein aggressives Auftreten und ja – auch die von ihm geleugnete Affäre mit einer Pornodarstellerin – gerade unter männlichen Wählern zu Bewunderung. Amerika war nie ein Land der Neider. Wer hat, der wird in den USA nicht missgünstig beäugt, sondern dafür gefeiert, dass er geschafft hat, was man selbst irgendwann schaffen will.

In Zeiten stark steigender Lebensmittelpreise, eskalierender Kriege und massiver Verunsicherung über die Folgen neuer Technologien wie der künstlichen Intelligenz sehnen sich viele nach der vermeintlich guten alten Zeit. Trump hat das erkannt, seine Herausforderin Kamala Harris (60) nicht.

Fragezeichen Elon Musk

Dennoch: Die Rückkehr der starken Männer bedeutet auch die Rückkehr der Unberechenbarkeit. Kein Mensch weiss, welche Rolle der schillernde Tesla-Unternehmer Elon Musk (53) in Washington spielen wird. Bei einem Telefonat Trumps mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski (46) soll er dabei gewesen sein. Mit welcher Legitimation? Ebenso ungewiss ist die wirtschaftliche Perspektive. Droht der Welt ein Handelskrieg oder sind Trumps angekündigte Zölle nur Bluff? Und wie wirkt sich das alles auf die Schweiz aus?

Pulsfühlung bei helvetischen Wirtschaftsführern. Für sie kommt das Wahlresultat nicht überraschend. «It’s the economy, stupid» – Es geht um die Wirtschaft, Dummkopf! Dieser Spruch kommt Wirtschaftsvertretern als Erstes über die Lippen, wenn sie über die Gründe für den Wahlsieg des Republikaners sprechen. «Die Amerikaner haben Trump gewählt, weil sie glauben, mehr im Portemonnaie zu haben», sagt der Chef eines Industrieunternehmens mit Produktionsstätten in den USA.

Die Managerin eines Grosskonzerns glaubt, dass der neue Präsident eine Chance für die Schweizer Wirtschaft sei. Sie erinnert an Edward McMullen (60), den Trump als Botschafter nach Bern schickte und der für Schweizer Firmen die Türen zu den entscheidenden Stellen in der Regierung und zum amerikanischen Markt öffnete. Dem amtierenden Botschafter Scott Miller scheint jedenfalls niemand eine Träne nachzuweinen.

Der globale Wandel macht sich in der Eidgenossenschaft bemerkbar – Amerika ist als Absatzmarkt für Produkte made in Switzerland immer wichtiger geworden. Die Elektro- und Maschinenindustrie erhöhte den Exportanteil von 11 Prozent im Jahr 2014 auf über 14 Prozent. Die USA sind hinter Deutschland zum zweitwichtigsten Exportland geworden. Für die Chemie- und Pharmabranche ist das Land mit einem Exportanteil von 20 Prozent inzwischen der wichtigste Absatzmarkt. Grosskonzerne wie Novartis, Roche oder Lonza lieferten aus ihren Werken im Aargau und im Wallis Chemikalien und Medikamente im Wert von rund 25 Milliarden Franken in die USA – Tendenz steigend.

Wie geht es weiter in den nächsten vier Jahren? Matthias Leuenberger (59) ist Länderchef von Novartis Schweiz und Präsident des Branchenverbands Scienceindustries. Seine grösste Sorge ist, dass unter Trump die geopolitischen Spannungen wieder zunehmen und die Welt «in zwei oder drei Pole auseinanderdriftet», sagte er an einer Veranstaltung am Freitag. In diesem Spannungsfeld bewege sich auch die Schweiz, die mit einem Freihandelsabkommen gute Beziehungen zu China pflege.

«Aber wenn sich die USA und China gegenseitig mit Schutzmassnahmen bekämpfen, müssen wir uns fragen, ob wir unseren Platz noch halten können oder uns auf eine Seite schlagen müssen», sagte Leuenberger. «Die Ausgangslage ist schwierig und unberechenbar geworden.» Der Novartis-Schweiz-Chef glaubt aber, dass die USA auch unter Trump ein wichtiger Absatzmarkt für Schweizer Pharmaprodukte bleiben werden.

Für den Fall, dass die neue Regierung ihre Wahlversprechen umsetzt, sieht Swissmem, der Verband der Schweizer Techindustrie, grosse Nachteile: «Höhere Zölle würden Schweizer Produkte auf dem US-Markt spürbar verteuern», sagt Noé Blancpain, Leiter Kommunikation und Public Affairs bei Swissmem. Schweizer Exporteure würden gegenüber US-Produzenten an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. «Das ginge zulasten des Werkplatzes Schweiz und seiner Arbeitsplätze», so Blancpain weiter. Profitieren könnten hingegen Schweizer Unternehmen, die in den USA produzierten. «Aber auch das ginge auf Kosten des Werkplatzes Schweiz.»

Weniger Regeln für die Banken

Ein klarer Glücksfall könnte Trump für den Finanzplatz sein. Am Mittwoch, als der Wahlsieg feststand, legten die Bankaktien explosionsartig zu. Auch die UBS-Aktien starteten durch und legten über 5 Prozent zu; die Titel der US-Grossbanken teilweise sogar zweistellig. Das Kursfeuerwerk hat nur zum Teil mit den angekündigten Steuersenkungen in Milliardenhöhe zu tun.

Hauptgrund dafür dürfte die Aussicht auf eine Lockerung der Bankenregulierung sein. In den USA regt sich Widerstand gegen die Einführung strengerer internationaler Eigenkapitalvorschriften. Wenn Trump den Wall-Street-Giganten zu Hilfe eilt, hat das auch Folgen für die UBS. Die Grossbank kann sich Chancen ausrechnen, in der Schweiz nicht so hart angefasst zu werden. Ihr Argument, über gleich lange Spiesse wie die US-Konkurrenz zu verfügen, dürfte an Gewicht gewinnen.

Das erleichtert das Lobbying für eine Abschwächung der neuen Grossbankenregeln. So jedenfalls sehen es die Spitzenvertreter der UBS. Der Massnahmenplan des Bundesrats sieht unter anderem vor, dass die Grossbank deutlich mehr Eigenkapital für ihre Töchter bereitstellen muss. Mit der Wahl von Donald Trump ins Weisse Haus steht die Verschärfung des Too-big-to-fail-Regimes in der Schweiz unter veränderten Vorzeichen.

Ob sich die weltpolitische Zäsur nun positiv oder negativ auf die Schweiz auswirken wird, steht in den Sternen.

Auf ihren Entdeckungsfahrten, die die Welt veränderten, gingen Kolumbus und seine Männer davon aus, dass die Offenbarung vor der Tür steht – das Ende der Zeit. Sie irrten sich. Und wie damals befürchten auch heute viele das Eintreffen der Apokalypse. Auch sie dürften mit ziemlicher Sicherheit falschliegen.

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