Epidemiologin Hodcroft warnt vor Spitalkollaps wegen Omikron-Welle
«Wir sollten jetzt versuchen, die Infektionszahlen runterzubekommen»

Die international bekannte Epidemiologin Emma Hodcroft spricht im Blick-Interview über die Omikron-Variante, Herdenimmunität und Corona-Medikamente.
Publiziert: 02.01.2022 um 18:55 Uhr
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Aktualisiert: 02.01.2022 um 22:08 Uhr
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Epidemiologin Emma Hodcroft ist zuversichtlich, dass es bei der Omikron-Welle ohne Lockdown geht – wenn nicht alle Stricke reissen.
Foto: Thomas Meier
Interview: Fabienne Kinzelmann

Auch Omikron verdirbt Emma Hodcroft (35) nicht die Freude. Blick erreicht die gut gelaunte Epidemiologin zum Interview telefonisch bei ihrer Familie. Wie viele konnte sie Weihnachten das erste Mal seit zwei Jahren wieder mit ihren Lieben feiern. «Das ist etwas, was ich nie wieder als selbstverständlich nehmen werde», schreibt sie auf Twitter, wo der international bekannten Wissenschaftlerin mehr als 76'000 Menschen folgen.

Welche eine Sache hätte die Schweiz 2021 anders machen sollen?
Hodcroft: Nur eine, hmm.

Denken Sie gleich an so viele?
Ich hätte mir auf jeden Fall gewünscht, dass die Schweiz bei der gerechten globalen Verteilung von Impfstoffen eine echte Führungsrolle eingenommen hätte.

Die Schweiz hat als erstes Land über die Covax-Initiative für sie vorgesehene Moderna-Dosen an Entwicklungsländer abgegeben.
Ja, das war fantastisch! Und ich hoffe, andere Länder nehmen sich ein Beispiel daran. Aber sie hätte auch als kleines Land wahrscheinlich noch mehr machen können. Und im vergangenen Herbst hätten wir ein paar mehr Massnahmen gebraucht, weil unsere Spitäler, wenn Omikron einschlägt, noch voll mit Delta-Patienten sind. Uns stehen noch viele Wintermonate bevor. Wir könnten jetzt besser vorbereitet sein.

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Omikron ist ansteckender, verläuft aber milder. Der Virologe Christian Drosten und der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach sind deswegen «vorsichtig optimistisch». Sie auch?
Wir müssen sehr vorsichtig sein, wenn wir über den Schweregrad sprechen. Teilweise liegt das am Schutz durch Impfstoffe und frühere Infektionen, teilweise daran, dass die Variante weniger gefährlich ist – aber wir wissen noch nicht, wie viel auf welchen Faktor zurückzuführen ist.

In Südafrika ist die Omikron-Welle schon wieder vorbei. Können wir daraus etwas für die Schweiz lernen?
Südafrika zeigt uns, dass die Fallzahlen bei Omikron schnell runtergehen können. Ich wäre aber immer vorsichtig damit, zwei Länder zu vergleichen. Zwischen Südafrika und Europa etwa gibt es grosse Unterschiede. Zuallererst: Südafrika hatte vor der Omikron-Welle extrem niedrige Fallzahlen und hat schnell harte Massnahmen eingeführt. Und das Verhalten von Menschen ändert sich häufig automatisch, wenn die Fallzahlen sehr hoch sind. Viele Leute lassen dann auch freiwillig Partys aus – egal, ob sie erlaubt sind oder nicht. Und Südafrika hat einen saisonalen Vorteil. Dort ist gerade Sommer, die Leute sind also vermutlich mehr draussen. Wir hatten im Sommer auch weniger Fälle. Aber jetzt ist bei uns Winter.

Was halten Sie von der These, dass die Variante unser «Ausweg» in die Endemie ist?
Der deutsche Gesundheitsminister hat selbst vor Omikron schon etwas sehr Kluges gesagt: Nach diesem Winter ist jeder entweder geimpft, genesen oder tot. Klingt hart, ist aber so – denn Herdenimmunität ist der einzige Weg aus dieser Pandemie. Ich würde sehr empfehlen, das mit Impfungen zu erreichen, denn die Vakzine sind unglaublich sicher und unglaublich effektiv.

Aber ansonsten gibt es einfach das gleiche Ergebnis mit mehr Toten?
Ja. Die geimpfte oder genesene Bevölkerung wird ein höheres Immunlevel haben, das uns auch helfen wird, uns vor neuen Varianten zu schützen. Wie hoch der Schutz genau ist, wissen wir allerdings nicht. «Escape-Varianten» wie Omikron können den Immunschutz teilweise umgehen, aber dagegen haben wir dann ja auch noch Booster.

Hört das denn nie auf?
Ich glaube nicht, dass wir für immer Booster brauchen werden. Aber möglicherweise noch ein paar in den nächsten Jahren. Jeder davon stärkt die Immunität und macht sie breiter. Das schützt uns teilweise auch vor künftigen Varianten. So wird es auch Ungeimpften gehen, wenn sie eine oder mehrere Infektionen durchmachen. Das ist aber die Holzhammer-Methode mit einem Risiko für den Einzelnen und die Gesellschaft.

Was heisst das: eine breitere Immunität? Müssen die Impfstoffe dafür angepasst werden?
Das ist ein Weg, ja. Es passiert gerade viel in der Impfstoffentwicklung und ein sogenanntes «multivalentes» Vakzin schützt gegen zahlreiche Varianten. Aber schon ein Booster mit dem exakt gleichen Impfstoff stimuliert das Immunsystem neu. Unser Körper bildet jeweils eine grosse und willkürliche Varietät an Antikörpern. Jedes Mal, wenn man sich exponiert – durch eine Impfung oder eine Infektion – besteht also die Chance, dass man mehr Antikörper erzeugt, die sich an etwas anderen Stellen als den vorherigen festsetzen.

Die Virenjägerin

Ohne ihre Arbeit würde die Welt in Sachen Corona-Varianten im Dunkeln tappen: Die Epidemiologin Emma Hodcroft (35) von der Universität Basel ist den Mutationen seit Pandemiebeginn auf der Spur. Sie hat dazu die Open-Source-Plattform Nextstrain mitgegründet, wo Forscher aus der ganzen Welt ihre Ergebnisse eintragen. Unermüdlich erklärt die in Schottland und Texas aufgewachsene Wissenschaftlerin die Pandemie in internationalen Medien und auf Twitter.

Ohne ihre Arbeit würde die Welt in Sachen Corona-Varianten im Dunkeln tappen: Die Epidemiologin Emma Hodcroft (35) von der Universität Basel ist den Mutationen seit Pandemiebeginn auf der Spur. Sie hat dazu die Open-Source-Plattform Nextstrain mitgegründet, wo Forscher aus der ganzen Welt ihre Ergebnisse eintragen. Unermüdlich erklärt die in Schottland und Texas aufgewachsene Wissenschaftlerin die Pandemie in internationalen Medien und auf Twitter.

Macht Ihnen Omikron mehr Sorgen als Delta?
Ja. Wegen der Geschwindigkeit der Ausbreitung. Und weil Omikron den Immunschutz umgehen kann, vor allem, wenn man nicht geboostert ist. Die Impfung schützt immer noch sehr gut vor einer schweren Erkrankung, aber nicht ganz so gut wie zuvor. Und wenn viele gleichzeitig infiziert sind, helfen uns auch mildere Verläufe gesamthaft nicht. Wenn die Prozentzahl der Erkrankten, die hospitalisiert werden müssen, sich halbiert, die Anzahl der Fälle aber sechsmal höher ist, brauchen extrem viele Menschen gleichzeitig eine Behandlung. Für die Spitäler zählt die reine Anzahl, nicht der Prozentsatz.

Aktuell sind die Intensivstationen etwa gleichermassen mit Covid-19-Patienten und anderen Erkrankten belegt. 24 Prozent der Betten sind noch frei – weniger als ein Viertel. Ist eine Überlastung des Gesundheitssystems überhaupt noch vermeidbar?
Nach einem kurzen Plateau steigen die Infektionszahlen nun steil. Wir müssen auf jeden Fall überdenken, ob es mehr Massnahmen braucht. Und dafür sollten wir nicht zu lange warten. Über Weihnachten waren viele vielleicht auch vorsichtiger und sind weniger ausgegangen. Jetzt, da die Feiertage vorbei sind, müssen wir aufpassen, dass sich das Virus nicht weiter ausbreitet, weil wir wieder «zur Tagesordnung» übergehen.

Bei seiner Notfallsitzung am Freitag hat der Bundesrat keine Massnahmen beschlossen. Ist das für Sie nachvollziehbar?
Wir sehen, dass die Fälle stark steigen und wir wissen, dass die Zahl der Hospitalisierungen und Toten oft um Wochen verzögert zunimmt. Deswegen sehen wir jetzt noch keine richtigen Auswirkungen, aber wir wissen, dass zumindest einige dieser jetzt infizierten Menschen eine Behandlung brauchen werden. Wir sollten nicht warten, bis die Spitäler voll sind, bis wir wieder Massnahmen ergreifen – wir sollten jetzt versuchen, die Infektionszahlen runterzubekommen.

Ein Lockdown scheint weit entfernt. Dabei rechnet die Taskforce in den nächsten Wochen mit bis zu 30’000 Infektionen täglich.
Ich bin zuversichtlich, dass wir keine Vollschliessung brauchen werden. Wenn wir unsere Beschränkungen klug handhaben und die Fallzahlen niedrig halten können – sie also nicht weiter in die Höhe schnellen lassen –, dann können wir hoffentlich eine weitere vollständige Abriegelung vermeiden. Aber wenn die Gesundheitssysteme wirklich überfordert sind, wenn wir entscheiden müssen, wer behandelt wird, …

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Wenn es also nicht mehr ohne Triage geht.
… dann ist ein ein- oder zweiwöchiger Lockdown leider das wirksamste Mittel, um den Druck auf das Gesundheitssystem zu verringern. Ich hoffe wirklich, dass es nicht dazu kommt. Aber wir müssen uns das als Option offenhalten, weil es verheerend wäre, wenn die Spitäler in eine Situation kämen, in der sie kranke Menschen nicht mehr behandeln könnten.

Christian Drosten und andere Experten befürchteten, die Pandemie könnte bis 2024 andauern. Jetzt sehen wir in Südafrika offenbar schon eine endemische Situation. Wann sehen Sie Licht?
Ich nenne ungern konkrete Zahlen, weil wir das zum jetzigen Zeitpunkt einfach nicht wissen können. Schon vor Omikron gabs Wissenschaftler, die glaubten, wir müssten uns über künftige Mutanten nicht sorgen. Delta wäre die letzte relevante Variante. Tja. Kann also ein Jahr sein, es können zwei sein, vielleicht auch fünf. Wir sollten davon ausgehen, dass wir nicht wissen, in welcher Phase der Pandemie wir genau sind und uns vorsichtshalber für kommende Phasen wappnen. Egal, ob das Ende dann vielleicht schneller kommt oder nicht.

Zwei Tage vor Weihnachten hat die amerikanische Medikamentenzulassungsbehörde FDA dem Corona-Medikament Paxlovid die Notfallzulassung erteilt. Nimmt das Covid-19 den Schrecken?
Das ist wirklich aufregend! Weil das in den klinischen Studien eine Hospitalisierung oder den Tod durch Covid-19 bei gefährdeten Erwachsenen um 89 Prozent verringert hat und einfach einzunehmen ist, könnte das ein Gamechanger sein. Genauso wie all die anderen Tabletten und Mittel, die gerade in der Entwicklung sind. Wir müssen einfach sicherstellen, dass die Medikamente auch schnell in ärmeren Ländern verfügbar sind und es nicht wie bei den Vakzinen läuft.

Auf Twitter schreiben Sie, Sie fühlten sich wie eine Schallplatte, die immer wieder dieselben ungehörten Warnungen abspielt. Was treibt Sie an?
Meine Verantwortung als Wissenschaftlerin. Zu teilen, was ich weiss, kann zur Lösung von Problemen beitragen: diese Pandemie weniger tödlich zu machen, weniger schädlich für die Psyche, die Gesellschaft und die Wirtschaft. Es ist meine moralische Pflicht, dafür auch immer wieder dasselbe zu sagen.

Können Sie Politikerinnen und Politiker verstehen, die die Pandemie-Bekämpfung nicht priorisieren?
Ich bin auf jeden Fall nicht neidisch auf ihre Rolle. Wer Politik macht, hat mehrere gesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen. Und wir als Wissenschaftler alleine können nicht abwägen, welche Massnahme welche langfristigen Schäden in der Gesellschaft verursacht. Natürlich empfehlen wir Schulschliessungen, wenn Schulen Hotspots sind – aber die Möglichkeit, Schulen zum Wohle der Gesellschaft so sicher wie möglich offen zu halten, kann dieses Risiko überwiegen. Politische Entscheidungen können nicht im luftleeren Raum getroffen werden und sie sind nicht einfach. Auf der anderen Seite muss Politikerinnen und Politikern auch klar sein, dass sie sich nicht durchlavieren können. Wir alle würden von einer besseren Kommunikation zwischen Wissenschaftlern und Politikern profitieren.

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