Der Schweizer Epidemiologe Christian Althaus (42) versteht die schnellen Corona-Lockerungen des Bundesrates nicht. Er ärgert sich. In einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» sagt der Leiter einer Gruppe von Epidemieforschern am Berner Institut für Sozial- und Präventivmedizin: «Das ursprünglich geplante Vorgehen mit monatlichen Öffnungsschritten basierend auf festgelegten Kriterien wurde schon wieder über den Haufen geworfen.»
Als Vorbild bezeichnet Althaus Dänemark (2450 Tote), Norwegen (700 Tote) und Finnland (885 Tote). «Allen drei Ländern ist es gelungen, mit relativ milden, aber dennoch konsequenten Massnahmen eine Übersterblichkeit zu verhindern und damit die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu minimieren.»
Doch wie haben die Skandinavier das genau gemacht?
Dänemark erkannte Mutation bald
Dänemark war auf eine dritte Welle vorbereitet. Die Regierung hatte rechtzeitig richtig vorausgesehen, dass die britische Mutation bald auch da auftreten würde. Es herrschte daher im Januar und Februar ein strikter Lockdown, es gab Massentests. Auch wurde die Mutation mit aller Konsequenz zurückverfolgt.
Zudem ist es Dänemark gelungen, mit hoher Präzision die am schwersten betroffenen Risikogruppen zuerst zu impfen. Die meisten Todesfälle und ernsten Krankheitsverläufe hatte es bei Bewohnern von Pflegeheimen gegeben.
Finnland riegelt Grenze ab
In Finnland hat es keinen landesweiten Lockdown gegeben. Darum ist das Land auch ökonomisch bisher gut durch die Krise gekommen.
Finnland setzte auf Abriegelung, die Grenzen wurden schon bald für viele Reisende dicht gemacht. Das Tracing wurde konsequent verfolgt, rund die Hälfte aller Finnen haben die App heruntergeladen. Mittels Fernunterricht wurden mehrere Tausend Leute im Tracing ausgebildet.
Das weitläufige, dünn besiedelte Finnland hat aber rein geografisch den Vorteil, sich abschotten zu können. Kommt dazu, dass sich die Finnen auf Abstand am wohlsten fühlen und schon immer auf virenübertragende Begrüssungsküsschen verzichteten.
Weniger Tote in Norwegen
Norwegen ist das einzige Land, in dem 2020 weniger Menschen gestorben sind als normalerweise. In Gebieten mit vielen Ausbrüchen wird jetzt das Testen intensiviert, zum Beispiel in den Schulen der Mittelstufe. Auch Norwegen profitiert in diesem Falle, wie Finnland, von der Lage am Rande Europas.
Kurz nach Ostern stellte die norwegische Premierministerin Erna Solberg (60) einen vierstufigen Plan für den Abbau der Einschränkungen vor. Seine Umsetzung hängt von der Entwicklung des Infektionsgeschehens, der Auslastung der Kapazitäten im Gesundheitssektor sowie den Fortschritten der Impfkampagne ab. Zwischen den einzelnen Lockerungsstufen sollen mindestens drei Wochen vergehen.
In der ersten Stufe wird die Anzahl Gäste zu Hause und an Veranstaltungen hochgefahren, in der zweiten soll es auch an oberen Schulstufen wieder Präsenzunterricht geben, in der dritten sind Erleichterungen für Aus- und Einreisen geplant, und in der vierten Stufe werden die Kontrollmassnahmen reduziert.
Diese Strategien lobt Althaus. Er hat grosse Bedenken, wie sich die Epidemie in der Schweiz nun entwickeln werde. Althaus: «Wir sollten aufpassen, dass wir uns mit den aktuellen Lockerungen den Sommer nicht verspielen.» (gf)