Edouard Mathieu entwickelte die wichtigste Corona-Statistik der Welt
«Die Menschen haben Impfraten gecheckt wie Spielergebnisse»

An einem Küchentisch in Paris hat Edouard Mathieu (31) die wichtigste Corona-Statistik der Welt entwickelt. Der Datenchef von Our World in Data sagt: Daraus können wir für andere Krisen lernen.
Publiziert: 19.03.2022 um 15:47 Uhr
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Aktualisiert: 21.03.2022 um 10:47 Uhr
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An diesem Küchentisch entstand die weltweit wichtigste Impf-Statistik: Edouard Mathieu in seinem Appartement in Paris.
Foto: Vincent Boisot/Riva Press/laif
Interview: Fabienne Kinzelmann, Paris

Haben Sie im vergangenen Jahr mal eine Corona-Impfstatistik angeschaut und vielleicht den Impf-Fortschritt von, sagen wir, der Schweiz mit den USA verglichen? Dann kamen Sie an seiner Arbeit nicht vorbei: Edouard Mathieu hat die Datenbank praktisch im Alleingang aufgebaut. Und das war komplizierter als gedacht, wie er beim Interview in Paris erzählt.

Wenn die Welt ein Patient wäre: Wie gehts ihr gerade?
Edouard Mathieu: Die Welt befindet sich in gewisser Weise seit jeher in einem kritischen Zustand, über die letzten paar Hundert Jahre ging es aber nach oben. Das ist manchmal schwer zu sehen, weil wir so grosse Zeitspannen kaum umfassen können und eine Entwicklung keine gerade Linie ist. Gleichzeitig ist sie aber auch kein Automatismus: Wir sind selbst verantwortlich dafür, dass die Dinge besser werden.

Wird der Krieg in der Ukraine die Entwicklung verschlechtern?
Es ist schwer zu sagen, welche langfristigen Auswirkungen der Krieg haben wird. Die Pandemie hat zum Beispiel viele positive Entwicklungen verlangsamt. Dinge wie Polio, Malaria – das alles geriet aus dem Fokus.

Worauf könnte sich der Krieg auswirken?
Am meisten beunruhigen mich drei Dinge. Erstens die möglichen Auswirkungen auf die Lebensmittelversorgung, insbesondere im Nahen Osten und in Nordafrika. Einige Länder wie die Türkei oder Ägypten beziehen den grössten Teil ihres Weizens aus Russland und der Ukraine, sodass wir bald mit Problemen bei der Lebensmittelversorgung rechnen müssen. Zweitens die Auswirkungen auf den Frieden in Europa und geopolitische Beziehungen – selbst bei einem baldigen Waffenstillstand und Kriegsende ist es schwer vorstellbar, dass Russland und Europa schnell wieder normale Beziehungen aufnehmen. Und drittens die offensichtlichen Folgen für Demokratie, Menschenrechte und wirtschaftliche Entwicklung in Russland.

Sie haben bei Our World in Data – wie schon bei Corona – schnell auf die aktuelle Lage reagiert. Wer auf Ihre Seite geht, findet viele Daten im Zusammenhang mit dem Krieg. Welche sind wichtig, um die Situation zu verstehen?
Militärausgaben, Energieproduktion, Atomwaffen und Migration etwa. Diese Daten haben wir schnell aktualisiert und aufbereitet. Im Moment halten wir Ausschau nach neuen Projekten, aber insgesamt scheint es eine Krise zu sein, bei der Daten eine geringere Rolle spielen werden als bei der Pandemie.

Beschäftigt Sie Corona noch?
In den letzten Wochen sah es so aus, als wäre Covid-19 kein so grosses Problem mehr. Aber während die Pandemie in den reichen Ländern ausklingt, dürfen wir nicht vergessen, dass die Impfrate in anderen Ländern noch immer bei einem Prozent liegt. Aktuell steigen die Fälle vielerorts wieder. In Hongkong ist die Situation gerade schrecklich.

Sie haben neben Ihrem Job als Berater die wichtigste Corona-Statistik der Welt aufgebaut und uns so geholfen, die Pandemie zu verstehen. Wie kam es dazu?
Ich kannte die Gründer von Our World in Data aus Oxford. Ich sah ihre Tweets, dass sie ihre Abende damit verbringen, Fallzahlen und Todesfälle zusammenzutragen, und fragte, ob ich helfen soll. Es war ja eh Lockdown. Am 1. April 2020 habe ich angefangen und die Statistik über die durchgeführten Corona-Tests weltweit aufgebaut. Wir fanden, dass es ja keinen Sinn ergibt, einfach nur Fälle zu zählen, wenn man keine Ahnung hat, wie viele Menschen getestet werden.

Zur Person

«Der beste Job, den ich je hatte», schwärmt der Franzose Edouard Mathieu (31) von seiner Arbeit. Mathieu ist Head of Data für die in Oxford (Grossbritannien) gegründete Plattform Our World in Data, eine wissenschaftliche Online-Publikation, die sich auf grosse globale Probleme wie Armut, Krankheit, Hunger, Klimawandel, Krieg, existenzielle Risiken und Ungleichheit konzentriert. Er gehört ausserdem zur Gemeinschaft der effektiven Altruisten und spendet jährlich zehn bis 20 Prozent seines Gehalts, um die Welt ein Stückchen besser zu machen.

Vincent Boisot

«Der beste Job, den ich je hatte», schwärmt der Franzose Edouard Mathieu (31) von seiner Arbeit. Mathieu ist Head of Data für die in Oxford (Grossbritannien) gegründete Plattform Our World in Data, eine wissenschaftliche Online-Publikation, die sich auf grosse globale Probleme wie Armut, Krankheit, Hunger, Klimawandel, Krieg, existenzielle Risiken und Ungleichheit konzentriert. Er gehört ausserdem zur Gemeinschaft der effektiven Altruisten und spendet jährlich zehn bis 20 Prozent seines Gehalts, um die Welt ein Stückchen besser zu machen.

Hätten Sie gedacht, dass das so gross wird?
Nein. Ich fand unsere Arbeit an Covid-19 sehr aufregend, aber damals waren wir sieben, acht Leute. Es ging vor allem darum, Daten aus den vielen verfügbaren Quellen zusammenzutragen und Grafiken zu entwickeln, die Interessierte benutzen können.

Das änderte sich, als Sie Ende 2020 anfingen, die weltweite Impfrate zu erheben. Damit sind Sie bis heute der Einzige, selbst die WHO nutzt Ihre Zahlen.
Das überrascht mich immer noch. Wir dachten, wenigstens ein paar andere würden dasselbe machen – die Johns Hopkins University zum Beispiel. Aber nein, bis heute sind es nur wir. Das hat den Druck vor allem auf mich enorm erhöht.

Warum das?
Der Informationshunger war riesig. Die Menschen haben die Impfraten gecheckt wie Spielergebnisse. Wir hatten teilweise eine Million Nutzer an einem Tag auf der Seite, weil jeder wissen wollte, wie es steht. Davor konnten wir immer auf andere verweisen, wenn Daten falsch waren. Jetzt haben wir sie selbst zusammengesucht, und Corona-Teams von Medien aus aller Welt haben unsere Daten benutzt. Ich habe von Mitte Dezember bis April 2021 allein daran gearbeitet, hier an diesem Küchentisch. Wenn ich eine Zahl falsch eingetragen hätte, wäre sie fünf Minuten später auf der Seite der «New York Times» oder des «Guardian» gewesen.

Woher hatten Sie die Daten?
Wir haben sie von Hand zusammengesucht. Das mussten wir schon damals bei der Test-Statistik oft machen – es gab oft keine Dashboards oder Excel-Tabellen. Die Impfzahlen für Frankreich zum Beispiel hat der Gesundheitsminister jeden Tag auf Twitter geteilt. Ich prüfte vietnamesische oder philippinische Medien und hörte mir Pressekonferenzen auf Youtube in Sprachen an, die ich nicht mal spreche – auf der Suche nach der Minute, in der ein Gesundheitsminister die neuen Zahlen verkündete. Ich habe viel Zeit mit Google Translate verbracht und kam mir manchmal eher vor wie ein investigativer Journalist.

Damals wurde Ihnen auch manchmal eine politische Agenda vorgeworfen.
Das war vor allem zwischen Januar und März 2021 der Fall, als ich das wirklich alles allein gemacht habe. Wir updaten einmal am Tag, aber manche Menschen haben stündlich auf die Seite geguckt. Da kamen dann böse E-Mails, dass wir diesen und jenen neuen Impf-Erfolg nicht zeigen würden. Manche hatten wirklich einen komischen Anspruch, dass alles perfekt sein müsste.

Haben Regierungen versucht, Sie zu beeinflussen?
Ja, manche haben mir zum Beispiel Daten per E-Mail geschickt. So was verwenden wir aber nicht, weil wir jede einzelne Zahl immer zu einer Quelle verlinken. Und ein paar Länder waren nicht glücklich mit den Zahlen, die wir veröffentlicht haben. Am meisten Diskussionen hatte ich wegen Einwohnerzahlen – je nach Quelle können die erheblich variieren. Dann hat ein Land nach Volkszählung zum Beispiel neun Millionen Einwohner, die Vereinten Nationen sagen aber, es sind mit Gastarbeitern ohne Pass zehn Millionen. Das reduziert die Anzahl der Geimpften dann um zehn Prozent. Bei Malta sind es offiziell 350'000 Einwohner, laut Uno aber 450'000. Das würde 25 Prozent ausmachen. Ausnahmsweise haben wir bei Malta die Volkszählung verwendet. Normalerweise vertrauen wir den Daten der Vereinten Nationen.

Wie ist die Datenlage heute?
Manche Länder veröffentlichen ihre Corona-Zahlen noch immer auf Twitter und Facebook. Das betrifft vor allem Zentralafrika. Dort funktioniert Facebook im Zweifelsfall zuverlässiger als die Regierungs-Webseiten. Mein Algorithmus prüft heute jeden Tag automatisch die Quellen für 200 Länder und übernimmt die neuen Zahlen. Aber etwa 30 Länder müssen wir noch immer manuell übertragen, weil sie nicht in einem Format publiziert werden, mit dem wir arbeiten können. In vielen afrikanischen Ländern haben wir auch einen blinden Fleck, weil es keine Sterberaten gibt – also können wir auch keine Übersterblichkeit berechnen. Mich macht es ziemlich wütend, wenn ich Leute sagen höre, dass in Afrika ja praktisch niemand gestorben sei. Nach allem, was wir wissen, war es ziemlich übel. Das zeigen uns die paar Länder, von denen wir Sterberaten haben. Und für westliche Länder ist das grösste Problem gerade die Unterscheidung zwischen Hospitalisierten wegen Covid-19 und jenen mit Covid-19.

Wie ist die Datenlage in der Schweiz im Vergleich?
Sehr gut. Wir arbeiten gerade viel mit der Sterblichkeitsrate nach Impfstatus. Dazu hat die Schweiz eines der besten Datensets, und es ist in einem guten Format verfügbar.

Mich hat immer verwundert, dass die Schweiz im Gegensatz zu Deutschland keine Inzidenz veröffentlicht – die durchschnittlichen Fälle im Verhältnis zur Bevölkerung.
Das ist tatsächlich der Grund, warum Our World in Data so früh angefangen hat, Corona-Daten abzubilden. Damals war noch nicht klar, wie «gross» Corona wirklich wird. Aber Max Rose und Hannah Ritchie (die Gründer/Leiter, Anm. d. Red.) verstanden, dass die Menschen die Daten so, wie sie dargestellt werden, nicht verstehen. Dass es nicht um tägliche Fall- und Todeszahlen geht, sondern um gleitende Durchschnittswerte zum Beispiel. Ein wöchentliches Muster ist viel aussagekräftiger, als die Zahlen von heute mit gestern zu vergleichen.

Was haben Sie während der Pandemie gelernt?
Dass Menschen solche Zahlen lesen und verstehen können, wenn man sie richtig darstellt und erklärt. Wenn mir jemand damals gesagt hätte, mit welcher Leidenschaft Inzidenzwerte im Fernsehen mal diskutiert würden, hätte ich ihn oder sie für verrückt erklärt. Daten hatten einen konkreten Einfluss auf Entscheidungen – und sie wurden so wichtig wie noch nie.

Was bedeutet das für künftige Krisen?
Dass der Flaschenhals, eine Krise zu begreifen und zu lösen, nicht bei der menschlichen Fähigkeit zum Verstehen liegt. Die Dinge werden oft einfach schlecht erklärt. Über die Finanzkrise 2008 etwa wäre, so glaube ich, anders berichtet und geredet worden, wenn die Zahlen dahinter besser genannt und erklärt worden wären. Daten sind sehr nützlich, um den Status quo der Welt abzubilden und ein realistisches Bild einer Entwicklung zu bekommen. Wir können so zum Beispiel sagen: Die extreme Armut hat sich in den vergangenen 200 Jahren verringert.

Wo und wie können wir Daten besser nutzen?
Will man wissen, was die Welt besser macht, muss man sie zuerst vermessen und die Ergebnisse kartografieren. Ein sehr gutes Beispiel dafür sind der Klimawandel und CO2-Emissionen. Hier sind Daten sehr wichtig, um Menschen zu erzählen, was tatsächlich zählt – im Vergleich zu dem, was viele denken, was zählt.

Was zählt denn wirklich?
Nehmen wir den Einfluss von Ernährung. Sich mit regionalen Produkten zu ernähren, bringt zum Beispiel nicht so viel, wie auf Fleisch zu verzichten. Doch die meisten denken, für die Umwelt sei alles vom Hof nebenan besser, als wenn es aus Spanien kommt. Wenn es aber Fleisch ist, ist es praktisch egal, woher es kommt. Wissen Menschen das, können sie bessere Entscheidungen treffen. Das Gleiche gilt etwa für die Energiequelle: die Auswirkungen fossiler Energien, von Atomenergie, von erneuerbaren Energien und der Fakt, dass die Kosten für erneuerbare Energien in den vergangenen 20 Jahren dramatisch gefallen sind.

Worauf konzentrieren Sie sich noch ausser auf die Pandemie und den Krieg in der Ukraine?
Der Klimawandel und die Ungleichheit – also die weltweite Entwicklung und Armut – sind eigentlich unsere grossen Themen. Uns gab es schliesslich schon vor Corona. Deswegen ist uns eigentlich auch egal, dass jetzt wieder weniger Leute unsere Seite besuchen. Wenn jemand, der ein Regierungsmitglied berät, unsere Grafiken nutzt, kann das einen tausendfach höheren Einfluss haben.

In welchen Bereichen fehlen uns Daten, um die Welt zu verstehen?
Im Bereich Gesundheit und Bildung. Und es gibt einen massiven Gender Data Gap, weil Frauen in praktisch allen Lebensbereichen weniger Aufmerksamkeit bekommen. Zudem verschleiern Daten, die Gesellschaften in den vergangenen Jahrzehnten genutzt haben, manchmal auch die Welt, wie sie wirklich ist. Beispielsweise wenn wir sagen, dass Frauen nicht oder weniger arbeiten – und wir nicht zählen, dass sie im Haushalt gearbeitet oder Kinder erzogen haben. Wenn wir das stattdessen als wirtschaftliche Leistung zählen, zeigt das das verschwendete Potenzial einer Gesellschaft auf oder wirft zumindest ein besseres Licht auf manche Dinge. Das ist auch das, was mich antreibt: Ich will, dass die Daten stimmen – und ich will, dass sie nützlich sind.

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