Es sei «Abrechnungszeit», verkündete das türkische Verteidigungsministerium in der Nacht zum Sonntag über Twitter. Kurz darauf die Meldung: Die Türkei greift kurdische Stellungen in Nordsyrien an. In der ersten Angriffsnacht wurden durch Luftangriffe zwölf Menschen getötet. Am Mittwoch haben türkische Streitkräfte nach eigenen Angaben seit Beginn der jüngsten Militäroffensive im Irak und in Syrien bereits 471 Ziele angegriffen. Dabei seien insgesamt «254 Terroristen neutralisiert» worden, erklärte der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar (70).
Die Begründung der Türkei: Die Angriffe sollen die Antwort auf den Terroranschlag in Istanbul vom 13. November sein. Das Verteidigungsministerium in Ankara berief sich auf das Recht zur Selbstverteidigung der Charta der Vereinten Nationen. Es gehe darum, «Terroranschläge» gegen das türkische Volk und Sicherheitskräfte zu vermeiden. «Terroristische Elemente» sollten neutralisiert und Angriffe auf die Türkei vermieden werden, hiess es weiter. Im Fokus der Attacken: die Kurdenmilizen YPG und die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK.
USA und Russland haben wohl Einverständnis gegeben
Gegenüber Blick erklärt Maurus Reinkowski, Türkei-Experte und Professor für Islamwissenschaft an der Universität Basel: «Das Ziel ist die Schwächung der kurdischen Organisationen in Syrien, also vor allem der kurdischen militärischen Einheiten der YPG. Damit soll jede Ambition im Keim erstickt werden, eine kurdische Entität in Nordsyrien zu errichten.»
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (68) spricht bereits seit Mitte des Jahres von einer möglichen Militäroffensive, die von der Landesgrenze bis zu 30 Kilometer tief in das Nachbarland vordringen soll – nun wurde diese Realität. Russland und der Iran – beide ebenfalls Akteure im syrischen Bürgerkrieg – hatten der Türkei von einem solchen Vorgehen abgeraten. Auch die USA hatten Ankara vor einer erneuten Offensive gewarnt. Reinkowski ist sich aber sicher: «Dass die Türkei ein grundsätzliches Einverständnis sowohl Russlands als auch der USA hat, ist wohl wahrscheinlich.»
Denn Russland hat weitgehend die Kontrolle über Syrien und den syrischen Luftraum. «Der Bewegungsradius der Türkei ist gering und um Probleme zu vermeiden, muss sich die Türkei mit Russland absprechen», erklärt der Experte. Bei den USA hat die Türkei etwas Spielraum, da man die Türkei nach wie vor als wichtigen Verbündeten sieht und diese noch immer ein Mitglied der Nato ist. «Daher ist man bereit, für das grössere Ganze über manches hinwegzuschauen.» Es sei «paradox», fügt Reinkowksi noch an.
«Die Kurden haben relativ wenige Möglichkeiten zurückzuschlagen»
Auch die jüngste Expansion der Nato – Finnland und Schweden sind im Zuge des Ukraine-Kriegs dem Verteidigungsbündnis beigetreten – dient Erdogan als Druckmittel. «Man will die europäischen Staaten zwingen, sich deutlicher als bisher in der Beurteilung der kurdischen Frage auf die Seite der Türkei zu stellen. Das kann der Türkei immer dann gelingen, wenn sie über ein Druckmittel verfügt, wie jetzt bei der Frage der Nato-Erweiterung.»
Für Reinkowski gibt es zudem viele Ungereimtheiten beim Anschlag in Istanbul. Die Verantwortung der PKK aus Syrien ist bisher nur in den Augen der türkischen Regierung bewiesen. Die Begründung, dass man mit der Militäroffensive den «kurdischen Terrorismus» bekämpfe, sei ein Vorwand. «Ein grundsätzliches Problem ist, dass die Türkei jenseits ihrer Staatsgrenzen, also in Syrien und im Irak, militärisch agiert, dies aber immer als eine Art innenpolitisches Problem betrachtet und sich daher jede Kritik an ihrem Handeln verbittet.»
Laut Erdogan sind auch Bodenoffensiven vorgesehen, die angegriffenen Parteien drohen mit militärischen Antworten. Einen neuen Konflikt in der Region hält der Experte allerdings nicht für möglich. «Die Kurden haben relativ wenige Möglichkeiten zurückzuschlagen und sich in dieser spezifischen Situation direkt zu wehren.» Die türkische Militär- und Sicherheitsmaschinerie sei dagegen überwältigend. «Eine offene Konfrontation wird die YPG daher nicht wagen.»
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