Es sah schlecht aus für die Ukraine: Am 10. Mai begann das russische Militär seine neue Offensive auf Charkiw im Nordwesten der Ukraine – nur 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Die Ukraine musste Truppen von der Hauptfront im Donbass abziehen, um die Russen aufzuhalten. Doch Anfang Juni wendete sich das Blatt – zumindest in Charkiw.
Russen stecken bei Charkiw fest
Die russische Offensive steckt dort seit geraumer Zeit fest. Während es zwar weiter zu heftigen Kämpfen entlang der zwei russischen Vorstossachsen im Norden von Charkiw kommt, ist es Russlands Armee nicht gelungen, mehr als zehn Kilometer auf ukrainisches Territorium vorzurücken. Das berichtet das angesehene Institute for the Study of War (ISW).
Für diese minimalen taktischen Erfolge hat Russland einen hohen Blutzoll gezahlt und auch viel schweres Gerät verloren. Laut britischem Verteidigungsministerium könnte der Mai tatsächlich der verlustreichste für die Russen seit Beginn des Krieges gewesen sein. Im Schnitt seien pro Tag 1200 Soldaten getötet oder verletzt worden.
Dabei sah es so aus, als würde die Ukraine Charkiw an Russland verlieren. Wie haben es die ukrainischen Truppen geschafft, Russland in eine solche desolate Lage zu manövrieren? Ein möglicher Grund sind die endlich eintreffenden Lieferungen von amerikanischen ATACMS-Raketen sowie die sehnlichst erwartete Artilleriemunition.
Westliche Kehrtwende hilft Ukraine
Hinzu kommt die Kehrtwende des Westens in der Frage, ob die Ukraine mit westlichen Waffen russisches Gebiet angreifen darf. Lange Zeit war dies verboten, nun erlauben wichtige Verbündete wie die USA, Deutschland und Frankreich einen solchen Einsatz. Nach Einschätzung von ISW haben die Ukrainer eine russische Raketenstellung bei Belgorod mit Himars-Raketen zerstört, die aus den USA geliefert wurden. Die Stellung soll sich in etwa 80 Kilometern Entfernung von Charkiw befunden haben.
Weniger erfreulich sieht die Lage aber im Donbass aus. Jede Einheit, mit der die Nordfront verstärkt, jeder Panzer und jedes Geschütz, das verlegt wird, fehlt an der Hauptfront im Donbass. Dort gelangen russischen Truppen in den letzten Tagen an verschiedenen Stellen bestätigte Gebietsgewinne zwischen 300 Metern und 1,5 Kilometern. Damit kommt der Kreml seinem Ziel, die annektierten Oblasten Luhansk und Donezk komplett einzunehmen, einen Schritt näher. Auch an der Südfront macht die russische Armee Fortschritte – und könnte die erfolgreiche ukrainische Gegenoffensive vom Sommer 2023 zunichtemachen.
Dass Russland an so vielen Fronten angreift, könnte auf einen Strategiewechsel Russlands hinweisen, schreibt ISW. Denn die bereits 1000 Kilometer lange Frontlinie hat sich mit dem russischen Angriff auf Charkiw nochmals bedeutend verlängert. So möchte es Russland schaffen, die ukrainische Verteidigung zu überdehnen – und somit längerfristig weitere Gewinne einfahren.
Wie kann sich Ukraine weiter verteidigen?
Denn: Woher soll die Ukraine die Truppen und Waffen hernehmen, eine so lange Front zu verteidigen? Der Armee fehlen schon jetzt die Soldaten. Männer im wehrfähigen Alter, die sich bisher der Einberufung entziehen konnten, werden auf den Strassen zwangsverpflichtet, wenn sie die Sicherheit ihrer Wohnungen verlassen. So wie Russland nimmt die Ukraine inzwischen sogar Strafgefangene in ihre Reihen auf, die sich so ihre Freiheit erkaufen.
Denn obwohl der russische Angriff auf Charkiw die Absurdität der Einsatzbeschränkungen westlicher Waffen offenlegte, bleibt es fraglich, ob dieser Schritt den Krieg nachhaltig beeinflussen kann. Doch die Ukraine gibt nicht auf – und kann sogar auf bessere Zeiten hoffen. Weitere Waffen- und Munitionslieferungen sind auf dem Weg in die Ukraine. So kündigte beispielsweise Frankreich die Lieferung von Mirage-Kampfjets an die Ukraine an. Der Kreml ist deshalb ausser sich: «Wir halten diese Aussagen für sehr, sehr provokativ», sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Freitag.