Die präzisen Angriffe der Ukrainer auf Ziele in Russland tun dem Feind richtig weh. Am Montag war es den ukrainischen Streitkräften gelungen, in der Nähe der russischen Stadt Belgorod ein modernes Luftabwehrsystem des Typs S-300/400 zu zerstören. Mit solchen Systemen können die Russen Überschall-Jets, Flugzeuge in grosser Höhe, Stealth-Fluggeräte, Marschflugkörper, Drohnen und ballistische Raketen abfangen.
Auch in Schebekino haben die Ukrainer offenbar einen russischen Stützpunkt getroffen. Laut Experten wurde dabei ein Iskander-2-System zerstört, mit dem Russland Raketen-Angriffe auf Charkiw ausführte. Marcel Berni (36), Strategieexperte an der ETH-Militärakademie spricht von einem «Boost», den die Ukrainer gerade erfahren. Aber bringt dieser Boost auch eine Wende in den Abnutzungskrieg?
Diese beiden Coups haben die Ukrainer geschafft, weil ihnen Staaten wie die USA, Deutschland und Frankreich vor wenigen Tagen grünes Licht dazu erteilt haben, gelieferte Waffen für den Angriff auf militärische Stellungen und Infrastruktur auf russischem Gebiet einzusetzen. Bisher hatten das die Lieferstaaten verboten, um den Kreml nicht zu provozieren.
Gegen russische Gleitbomben
Die drei Staaten haben das Verbot gelockert, seit die Russen die Schlagkraft ihrer Gleitbomben entdeckt haben. Diese Bomben gleiten dank kleiner Flügel bis 60 Kilometer weit, können also von russischen Jets in sicherer Distanz zur ukrainischen Flugabwehr über eigenem Boden abgeworfen und in die Ukraine gelenkt werden.
US-Präsident Joe Biden (81) hat die Verwendung amerikanischer Waffen allerdings stark beschränkt. Er erlaubt der Ukraine nur, «präemptiv» zuzuschlagen. Darunter versteht man Angriffe, die unmittelbar vor einem erwarteten feindlichen Angriff durchgeführt werden. Zudem gilt die Erlaubnis für Gegenschläge zurzeit nur zur Verteidigung von Charkiw. Kiew hofft auf eine Ausweitung, da auch im Gebiet von Sumy – nordwestlich von Charkiw – eine russische Offensive droht.
Westliche Waffen überlegen
Laut Marcel Berni sind die neuen westlichen Waffensysteme den alten sowjetischen in puncto Reichweite und Präzision tendenziell überlegen. So habe der Himars-Mehrfachraketenwerfer die russischen Besatzer im Sommer 2022 dank Beweglichkeit, Effizienz und der vernichtenden Wirkung unter grossen Druck gesetzt. «Die russische Logistik musste anschliessend dezentralisiert werden», sagt Berni.
Weitere Waffensysteme, in denen der Westen den Russen überlegen ist, sind laut Berni gepanzerte Kampffahrzeuge, die bodengestützte Kleinbombe GLSDB, Artilleriewaffen wie die amerikanischen M777 und die deutsche Panzerhaubitze 2000, die britischen Storm Shadow und die französischen Scalp Marschflugkörper sowie die Luftverteidigungssysteme.
Nachteilig für die Ukraine sei allerdings, dass diese Systeme teuer seien und dass sich Kiew stark vom Westen abhängig mache. Berni: «Häufig wird die strategische Wirkung dieser Waffen auch überschätzt, wie etwa das Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive vor einem Jahr illustriert.»
Nordfront stabilisieren
Der Kreml hatte angekündigt, auf Angriffe mit westlichen Waffen asymmetrisch zurückzuschlagen. Das bedeutet, dass Russland ukrainische Ziele an andern Orten angreifen könnte. Dazu sagt Berni: «Es ist symptomatisch für die westliche Eskalationsangst, dass die Ukraine nur mit gewissen westlichen Waffen an einem schmalen Frontabschnitt auf russisches Gebiet wirken darf.» Um Ziele weiter im russischen Landesinnern angreifen zu können, würden daher die ukrainischen Streitkräfte versuchen, eigene Waffen zu entwickeln.
Auch wenn die Ukrainer westliche Waffen für den Einsatz in Russland brauchen dürften, bringe das noch keine Wende im Krieg, sagt Berni. «Beide Seiten sind in einem Abnutzungskrieg, da geht es weniger um die Einnahme von Boden als vielmehr um die Zerstörung gegnerischer Ressourcen.»
Zwar könne die Ukraine die Nordfront besser stabilisieren, bleibe aber dennoch weiterhin in der Defensive. Berni: «Diese Erlaubnis, ausgewählte Ziele in Russland anzugreifen, ist weder ein Blankoscheck noch ein Allheilmittel.»