Langsam erwacht Russland aus dem Schrecken des Samstags. Mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit rückten Wagner-Söldner in Richtung Moskau vor, liessen die Stadt zu einer Festung werden. Erst am späten Abend wurde der Vormarsch von Wagner-Boss Jewgeni Prigoschin (62) gestoppt – dank eines Deals mit dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko (68).
Das plötzliche Ende des Vormarsches irritiert. Verschiedene Szenarien sind möglich. Blick listet die aktuell häufigsten Theorien auf und erklärt, was dahintersteckt.
Putins grosse Inszenierung
«Es gibt verschiedene Experten, die nicht ausschliessen, dass das Ganze ein grosses Täuschungsmanöver war», sagt Blick-Auslandredaktor Guido Felder im Gespräch auf Blick TV. Dabei hätte auch Russland-Präsident Wladimir Putin (70) seine Finger im Spiel. «Das Ganze hängt mit dem Ukraine-Krieg zusammen – es ist nämlich dann nicht auszuschliessen, dass Prigoschin sich nach Belarus zurückzieht, dort seine Kämpfer neu formiert und einen Angriff auf die Ukraine startet.»
Auch russische Militärblogger halten eine grosse Inszenierung nicht für ausgeschlossen. Der prominente Blogger «Rybar» etwa schreibt: «Nehmen wir an, dass der gesamte Marsch der Gerechtigkeit von Anfang bis Ende koordiniert ist. Was wären dann die Ziele?» Möglich sei etwa die versuchte Absetzung von Verteidigungsminister Sergei Schoigu (68).
Blick-Auslandredaktor Felder betont: «Diese Theorie existiert und man darf sie sicherlich nicht ausschliessen. Allzu realistisch ist sie aber nicht.»
Auch die US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) schreibt in einer Analyse am Sonntag, eine Verschwörung unter der Mitwirkung von Putin sei «praktisch ausgeschlossen.» Der Aufstand habe Schwächen der russischen Sicherheitskräfte offenbart und Putins Gewaltmonopol untergraben. «Prigoschins rasanter Vormarsch nach Moskau machte einen Grossteil der russischen regulären Streitkräfte lächerlich, es war eine Blossstellung», schreibt das ISW.
Die gesamte Bevölkerung habe die Schwierigkeiten der russischen Regierung mitbekommen, das Image der russischen Armee habe massivst gelitten. «Behauptungen, dass Prigoschins Rebellion, die Reaktion des Kremls und Lukaschenkos Vermittlung allesamt vom Kreml inszeniert wurden, sind absurd», schliesst das ISW deshalb.
Prigoschins Verzweiflungstat
Eine weitere Theorie, die im Raum steht: Beim Putschversuch könnte es sich um eine Verzweiflungstat von Prigoschin gehandelt haben. Am Wochenende hatte das Verteidigungsministerium Russlands nämlich angekündigt, bis zum 1. Juli alle auf Moskauer Seite kämpfenden Privatarmeen unter seine Befehlsgewalt nehmen zu wollen. Dazu hätte auch Wagner gezählt.
Laut dem ISW könnte es sein, dass Prigoschin diese Ankündigung als «existenzielle Bedrohung für sein politisches (und möglicherweise persönliches) Überleben» angesehen hatte. Deshalb könnte sich der Wagner-Boss dafür entschieden haben, in Russland einzumarschieren – in der Hoffnung, dass Putin seine Armeespitze austauscht und die Anweisung zurückgezogen wird.
Gegen diese Theorie spricht der schnelle Vormarsch und die gut koordinierten Aktionen. Experten gehen davon aus, dass Prigoschin den Vormarsch von langer Hand geplant haben dürfte. Die Ankündigung vom Wochenende würde da zu wenig Vorlaufzeit bieten.
Lukaschenkos Machtspiel
Auffällig: Die Verhandlung mit Prigoschin zu einem Ende des Vormarsches liefen nicht etwa über die russischen Behörden. Stattdessen trat der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko als Vermittler auf die grosse Bühne. Ausgerechnet Lukaschenko, der in den vergangenen Monaten immer mehr das Image eines «Putin-Handlangers» erhielt.
Russland-Experte Stephan Meister von der Denkfabrik DGAP schreibt denn auch auf Twitter, Lukaschenko sei eigentlich komplett vom Kreml abhängig und sei Putin völlig untergeordnet. Nun stünde er plötzlich als Vermittler dar. Das wirke «irreal».
So war es denn auch nicht der Kreml, der die Einigung und den Abzug der Wagner-Soldaten bekannt gab. Vielmehr übernahm Lukaschenkos Nachrichtenagentur diese Aufgabe. Der Kreml erklärte das mit der langen Freundschaft von Lukaschenko und Prigoschin: «Lukaschenko und Prigoschin kennen sich seit mehr als 20 Jahren.»
Damit dürfte aber nicht die gesamte Geschichte erzählt sein. Lukaschenkos Pressedienst deutete an, dass der belarussische Machthaber auch mit Putin Gespräche geführt habe. Es könnte also sein, dass Putin selbst sich an Lukaschenko gewandt hat – mit der Bitte, einen Deal auszuhandeln, vermuten verschiedene Experten.
Für den belarussischen Machthaber könnte der Putschversuch also auch eine Gelegenheit sein, aus dem Schatten Putins auszutreten. «Dass ausgerechnet Lukaschenko eine tragende Rolle spielt, ist für Putin demütigend und dürfte Lukaschenko andere Vorteile verschafft haben», schreibt etwa das ISW.
Die Frage, welchen Deal Lukaschenko Prigoschin angeboten hat, ist ungeklärt. Blick-Auslandredaktor Felder sagt: «Es muss ein sehr guter Deal für Prigoschin sein, dass er einen Teil seiner Macht aufgibt. Ich denke aber nicht, dass er alles aufgeben wird. Wenn ein Teil der Wagner-Gruppe aufgelöst wird, dürfte es sich um den ukrainischen Teil handeln.»
Allerdings gebe es auch noch Wagner-Einheiten in anderen Teilen der Welt, beispielsweise in Afrika. Dort ist es einfacher, beispielsweise Minen zu besetzen und so das grosse Geld zu machen. Ich bin also nicht sicher, ob Prigoschin wirklich alles aufgibt.»