Die Hölle ging am Dienstag in Flammen auf. Vom überfüllten Flüchtlingscamp Moria auf der griechischen Mittelmeerinsel Lesbos ist nichts mehr übrig. Das Lager, Symbol für Europas Versagen in der Flüchtlingskrise wie kein anderes, ist restlos niedergebrannt.
Mehr als 12'000 Männer, Frauen und Kinder hausen auf der Strasse, neben Mülltonnen, auf Parkplätzen. Ohne ausreichend Wasser, Nahrung oder medizinische Versorgung. Pralle Hitze, kaum Schatten. Der Weg in die Hauptstadt Mytilini: versperrt.
«Das pure Elend», sagt Ewa Ernst-Dziedzic (40) zu SonntagsBlick. Die österreichische Grünen-Politikerin ist als Beobachterin vor Ort. «Die Leute sitzen jetzt den vierten Tag fest, werden nicht rausgelassen und Helfer nicht reingelassen.» Die Parlamentarierin beschreibt, wie sich Schwangere an ihr Bein klammerten. Wie eine Frau mit Schaum vor dem Mund kollabiert – und die Sicherheitskräfte zuschauen.
Neues Lager bietet nur 3000 Menschen Platz
Neun EU-Staaten und die Schweiz haben sich Stand Samstag zur Aufnahme unbegleiteter Minderjähriger bereit erklärt. Der Bundesrat will 20 der mehr als 400 Kinder aufnehmen. Am Freitagnachmittag landete zudem ein mit rund einer Tonne Schlafsäcke, Matten, Wasserkanister und Küchenutensilien beladener Bundesratsjet in Athen.
Die restlichen Geflüchteten? Sollen trotz der prekären Situation bleiben. Mehrheitlich stammen sie aus Afghanistan und Syrien, viele von ihnen warten seit Jahren auf die Bearbeitung ihres Asylgesuchs. Die griechischen Behörden sind überfordert bis unwillig. Im Frühjahr wurde das Asylverfahren völkerrechtswidrig gar komplett ausgesetzt.
Eilig wird aktuell auf einem militärischen Schiessübungsplatz ein Lager errichtet. Mit Geburtsfehler: Das Lager bietet nach Berichten wieder nur Platz für 3000 Menschen. So war auch Moria angelegt. Zu Spitzenzeiten waren es mehr als 20'000 Menschen.
«Kaum ein Lager hat schlechtere Lebensbedingungen»
Zum Brand führte offenbar Corona-Frust. Seit März befindet sich Moria im Lockdown. Nachdem die Behörden am Dienstag 35 aktive Fälle meldeten, kam es zu Unruhen. Für ausreichende Schutz- und Hygienemassnahmen fehlt es an allem, pro 1300 Bewohner gibts nur einen Wasserhahn.
«Ich war in vielen Flüchtlingslagern in Afrika oder in Nahost. Nirgends herrschen so dramatische Zustände wie in Moria – und das mitten in Europa», sagt der deutsche Entwicklungshilfeminister Gerd Müller (65, CSU). Und: «Kaum ein Lager der Welt hat schlechtere Lebensbedingungen.»
Ein Fünftel der Flüchtlingsunterkünfte in der Schweiz sind leer
Die Schweiz hätte Platz. Mindestens acht Städte haben sich zur Aufnahme von Menschen aus Moria bereit erklärt. Und obwohl die Unterbringungsplätze in der Schweiz wegen der strengen Corona-Schutzmassnahmen mit 2200 auf die Hälfte reduziert ist, ist aktuell rund ein Fünftel frei, wie das Staatssekretariat für Migration (SEM) auf Anfrage von SonntagsBlick mitteilt.
Das humanitäre Flickwerk bringt niemandem was. Die lokale Bevölkerung revoltiert gegen den Wiederaufbau von Moria. Ihre Geduld ist erschöpft. Augenzeugen berichten SonntagsBlick, die Stimmung sei angespannt. Helfer werden eingeschüchtert und bedroht.
Hungerstreik und Tränengas auf Lesbos
Die erschöpften und zusammengepferchten Flüchtlinge haben es satt. «Einige Männer sind in den Hungerstreik getreten», berichtet Elena Lydon (56), eine Krankenschwester aus Irland. «Sie lassen uns nicht mehr helfen, sie wollen nur noch runter von der Insel.»
Den zweiten Tag in Folge kam es am Samstag zu Demonstrationen. Videos zeigen, wie einige Flüchtlinge mit Steinen werfen, kleine Feuer entzünden. Die Polizei setzt Tränengas ein. Inmitten der Auseinandersetzungen und wegen der gesperrten Strasse ohne eine Chance auszuweichen: Kinder, Familien mit Kleinkindern und alte Menschen.