SonntagsBlick: Herr Ziegler, ich habe Ihr neues Buch gelesen. Raten Sie, was ich mir dabei gedacht habe?
Jean Ziegler: Sagen Sie es mir.
Hoffentlich übertreibt Ziegler wieder!
Nein, das tue ich eben nicht. Es heisst über mich: Er schiesst häufig übers Ziel hinaus. Aber nie daneben.
Ihr Ziel war diesmal die griechische Insel Lesbos.
Genau, ich war im Mai dort. Auf offizieller Uno-Mission. Nehmen Sie auch einen Espresso, Frau Wüst?
Gerne. Dort befindet sich das grösste Flüchtlingslager Europas. Beschreiben Sie kurz, was Sie dort sahen.
Kurz ist schwierig, ich versuchs. Die Flüchtlinge werden auf dem Meer zurückgedrängt, damit sie kein Asylgesuch stellen können. Da sich die Küste nicht hermetisch abdichten lässt, kommen trotzdem jede Woche Hunderte Flüchtlinge auf lausigen Schlauchbooten bis an die Küste. Von der griechischen Polizei werden sie in das Auffanglager Moria gebracht. 22'000 Menschen leben da aktuell hinter Stacheldraht in einer alten Kaserne, die für 3000 Soldaten gebaut wurde. Manche sind seit vier Jahren gefangen. Das verteilte Essen ist oft ungeniessbar, die hygienischen Zustände desaströs. Es gibt je eine Toilette für über hundert Menschen. Auf Lesbos kann es bis zu fünf Grad kalt werden. Es gibt in den Lagern nirgends Heizungen und nur kaltes Wasser. Diesen Februar sind nach offiziellen Angaben bereits zwei Kinder erfroren – wahrscheinlich sind es wesentlich mehr.
Woher kommen die Menschen in Moria?
Aus gegenwärtig 58 Ländern. Vor allem aus Jemen, Syrien, Irak, Afghanistan und Iran.
Stellen wir uns eine syrische Familie mit vier Kindern vier. Warum flieht sie?
Weil sie bombardiert wird. In Idlib in Syrien verübt Assad mit Unterstützung des Massenmörders Putin in diesem Moment ein fürchterliches Massaker.
Unsere Familie geht also weg. Wohin?
In die Türkei. Sie muss dort eine Mauer mit Selbstschussanlage überwinden, die von der EU bezahlt wurde. Wenn sie durchkommt, geht sie in die Region Izmir und sucht einen Schlepper.
Warum bleibt sie nicht in der Türkei?
In der Türkei leben 3,6 Millionen Syrer. Die Situation ist schlimm. Sie werden oft misshandelt.
Auf dem Meer trifft die Familie auf die europäische Küstenwache. Was passiert?
Sie wird aufgefordert, in die Türkei zurückzugehen.
Mit Megafons?
Ja, in drei Sprachen. Aber diese Menschen wollen nicht zurück. Sie sind geflüchtet, haben so viel erlitten. Sie werden auf der letzten Etappe nicht aufgeben.
Wie geht es weiter?
Die europäische Küstenwache Frontex oder die türkischen und griechischen Küstenwachen, die ebenfalls von der EU bezahlt werden, traktieren die Schlauchboote mit Eisenstangen.
Der europäische Grenzschutz schlägt mit Eisenstangen auf Menschen ein?
Diese Angriffe sind von NGOs dokumentiert! Manchmal fährt die Küstenwache auch mit Schiffen um die Schlauchboote herum, um hohe, gefährliche Wellen zu erzeugen. Was wesentlich ist: Dort in der Ägäis findet ein Angriff der EU auf Flüchtlinge statt. Alles basiert auf der Annahme, dass der Flüchtling ein Feind der europäischen Zivilisation ist. – Wollen wir Mittagessen bestellen? Ich nehme das Tagesmenü, Fischfilet. Und Sie?
Ich auch. Die Menschen wagen sich trotzdem aufs Meer. Warum also diese Strategie?
Lassen Sie mich die Motivationskette erklären.
Nur zu, Herr Ziegler.
Hinter dieser EU-Strategie steckt die Angst vor dem Vormarsch der rassistischen Bewegungen in Europa – AFD, Le Pen, Salvini. Europa ist bedroht von dieser extremen Rechten, die prosperiert wegen der Sündenbock-Theorie – an der Arbeitslosigkeit und vielen anderen Problemen seien Ausländer schuld und ganz besonders Flüchtlinge. Die Betonköpfe in Brüssel denken nun also, sie müssten die Flüchtlingszahlen senken, damit die Rechten keine Argumente haben und nicht noch mehr Stimmen gewinnen. Aber das ist falsch. Mit Rassisten, Antisemiten, Antifeministen und Islamophoben darf man nicht diskutieren.
Diskutieren schon.
Wir können nicht sagen, wir liquidieren praktisch das Asylrecht in Europa, aber bitte gewinnt dann nicht noch mehr Wählerstimmen. Rassisten muss man im Namen der Demokratie bekämpfen. Der Rassist ist ein Feind der Menschheit. Punkt. Schluss. Fertig.
Das Essen wird serviert. Ziegler schenkt Weisswein ein.
Das ist doch alles nicht neu. Erdogan bekommt Geld, damit er keine Flüchtlinge durchlässt. Früher wurde der libysche Diktator Muammar al-Gaddafi von der EU dafür bezahlt, Flüchtlinge von Europa fernzuhalten. Herr Ziegler, Gaddafi war doch Ihr Freund.
Nein, ein Freund ganz sicher nicht.
Aber Sie sind seiner Einladung mehrere Male gefolgt.
Meine Bücher sind auf Arabisch übersetzt. Gaddafi sah sich selbst als grossen Theoretiker. Er wollte mit mir diskutieren. Nach dem Attentat von Bengasi von 1982 verwandelte er sich in einen blutigen Diktator. Ich habe seine Einladungen leider zu lange angenommen.
Der Antrag unserer syrischen Familie wird geprüft, und sie wird einem europäischen Land zugeteilt. Richtig?
Diese sogenannte Relokalisierung existiert auf dem Papier. Der Verteilschlüssel richtet sich nach der Bevölkerungszahl und dem Bruttoinlandprodukt der jeweiligen Länder. Aber das funktioniert nicht.
Weil die osteuropäischen Länder kaum Flüchtlinge aufnehmen.
Die «ethnische Reinheit Europas» müsse bewahrt werden, sagte der polnische Ministerpräsident. Das ist Nazi-Vokabular. Orban lässt Flüchtlinge verprügeln, hetzt an seinen Grenzen Hunde auf sie. Auch die Slowakei, Tschechien, Bulgarien und Rumänien weigern sich. Obwohl sie damit gegen EU-Recht verstossen.
Was tun?
Wir müssen sie zwingen, Flüchtlinge aufzunehmen. Das können wir nur tun, indem wir ihnen jegliche Subventionen streichen. – Nehmen Sie auch noch einen Schluck Weisswein, Frau Wüst. Ich darf nicht mehr, ich muss noch ins Fernsehen.
Sie meinen die Kohäsionsmilliarden.
Der Kohäsionsfonds der EU soll dazu beitragen, dass die Volkswirtschaften innerhalb der Union sich angleichen. 1,3 Milliarden Franken hat die Schweiz 2019 in diesen Fonds einbezahlt. 63,4 Milliarden Euro hat die EU in den letzten drei Jahren ausbezahlt. Von diesem Geld profitierten fast ausschliesslich die europäischen Länder, die sich weigern, Flüchtlinge aufzunehmen.
Ein Mann tritt an unseren Tisch, schüttelt Ziegler die Hand. Dankt ihm für seine Arbeit.
Sie haben Fans!
Es gibt auch andere. Ich habe immer Angst, wenn jemand, den ich nicht kenne, so zielstrebig auf mich zukommt.
62 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht ...
... aber nur 20 Millionen fallen unter die Konvention, sind Gewaltflüchtlinge. Haben also ein Recht auf Schutz. 19'000 Gesuche hat die Schweiz letztes Jahr geprüft. Ein wenig mehr als 5000 haben Asyl erhalten. Das Staatssekretariat für Migration unter Mario Gattiker macht eine gute Arbeit.
Kann Europa 20 Millionen Flüchtlinge aufnehmen?
Europa hat 535 Millionen Einwohner, ist die grösste Wirtschaftsmacht der Welt. Mit einem Bruttosozialprodukt von über zehntausend Milliarden Euro. Die Uno geht von fünf Millionen Menschen aus, die in Ländern wie der Türkei, Libyen und Marokko auf eine Überfahrt nach Europa warten. Jetzt erzählen Sie mir doch nicht, dass Europa nicht fünf Millionen Menschen integrieren kann. Es gibt kein Argument.
Wenn fünf Millionen weitere kommen?
Niemand will doch fliehen! Das sind Gewaltflüchtlinge. Es ist ein Menschenrecht, in einem anderen Land um Schutz nachsuchen. Wir können nicht sagen, wir respektieren das Asylrecht bis maximal drei Millionen Menschen oder nur für Flüchtlinge aus einem bestimmten Land. Menschenrechte sind absolut. Man kann sie nicht relativieren.
Er schaut den Buben am Tisch gegenüber an, der da mit seiner Mutter sitzt und Pommes frites isst. Fragt ihn, ob es ihm schmecke. Dann schweigt er. Und wenn Ziegler nicht spricht, fällt das auf.
Woran denken Sie?
Die Suizide von Kindern sind das Schlimmste, diese Selbstverstümmelungen. Die Narben an den Armen dieser Flüchtlingskinder auf Lesbos. Es ist ein Hilfeschrei, ein Zeichen der Verzweiflung, die letzte Möglichkeit. Sogar Ärzte ohne Grenzen hat das noch nie in diesem Ausmass gesehen.
Was nun?
Wissen Sie, ich war traumatisiert von dem, was ich da sah. Ich konnte nicht mehr schlafen. Das geschieht in Europa und im Namen Europas. Das Buch darüber hätte ich nicht schreiben dürfen, weil ich in offizieller Uno-Mission dort war und der Bericht noch nicht veröffentlicht ist. Aber als Mensch konnte ich nicht länger schweigen.
Sie fordern, dass die Auffanglager geschlossen, das Asylrecht wiederhergestellt und der Verteilungsplan mit Sanktionen durchgesetzt wird. Wer soll das tun?
Jeder von uns. Wenn wir wegschauen, machen wir uns zu Komplizen dieser Abschreckungspolitik. Was in Lesbos geschieht, geschieht auch in Ihrem Namen, Frau Wüst. Die meisten EU-Staaten sind Demokratien. Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Wir Bürgerinnen und Bürger müssen die neue EU-Kommission zwingen, diese Terror-Strategie zu beenden und den Flüchtlingen Gastrecht und Schutz zu gewähren.
Der emeritierte Soziologieprofessor Jean Ziegler (86) ist weltweit einer der bekanntesten Globalisierungskritiker. Er war UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Aktuell ist Ziegler Mitglied des UN-Menschenrechtsrats. Der ehemalige SP-Nationalrat schrieb zahlreiche Bestseller. Er wohnt mit seiner Frau Erica in Russin GE.
Das neuste Buch: Jean Ziegler: «Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten. C. Bertelsmann. 24.90 Franken.
Der emeritierte Soziologieprofessor Jean Ziegler (86) ist weltweit einer der bekanntesten Globalisierungskritiker. Er war UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Aktuell ist Ziegler Mitglied des UN-Menschenrechtsrats. Der ehemalige SP-Nationalrat schrieb zahlreiche Bestseller. Er wohnt mit seiner Frau Erica in Russin GE.
Das neuste Buch: Jean Ziegler: «Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten. C. Bertelsmann. 24.90 Franken.