Schmutz, Elend, Gewalt. Wer als Flüchtling auf Lesbos ist, will in aller Regel nur eins: weg. Eine Schweizerin hingegen will unbedingt bleiben – und darf nicht.
«Wir müssen heute Abend eine Fähre nach Athen nehmen», sagt die Thunerin Tirza Weiss (35) zu BLICK. Schon seit Sonntag steht sie unter Hausarrest. Der Grund: Die Hilfsorganisation, für die sie im Einsatz ist, sorgt sich um die Sicherheit der Freiwilligen.
Rechte haben am vergangenen Sonntag «Checkpoints» auf der Insel eingerichtet. Freiwillige und Journalisten wurden massiv bedroht und attackiert.
«Am vergangenen Sonntag musste ich Decken und Kleidung nach Moria bringen, da haben die Rechten gerade angefangen, die Strassen zu sperren», berichtet Weiss, die als ehrenamtliche Fahrerin für das Flüchtlingscamp arbeitet. «15 bis 20 Männer standen auf der Strasse und haben mir nachgerufen.»
Lesbos droht am Wochenende rechte Gewaltwelle
So harmlos kam nicht jeder davon. «Mir haben sie mein Stativ weggenommen und mir damit auf Rücken und Beine geschlagen», sagt der deutsche Fotograf Raphael Knipping (27) zu BLICK. Er dokumentierte, wie Rechte im Hafen von Thermi Plastikflaschen auf ein manövrierunfähiges Flüchtlingsboot warfen. «Ich habe meine Kamera anderen Fotojournalisten ins Auto geworfen und meinen Kopf geschützt.»
Am Wochenende droht Lesbos eine weitere rechte Gewaltwelle. «In den letzten Tagen sind auf Lesbos mehr Nazis als Geflüchtete angekommen», berichtet der deutsche EU-Abgeordnete Erik Marquardt (32). Er weiss von 40 internationalen Rechten. «Darunter vorbestrafte Gewalttäter.» Deutsche seien sicher darunter. In rechten Telegram-Gruppen werde zudem vermeldet, dass 100 französische Nazis auf dem Weg nach Lesbos seien.
Bereits seit Tagen traut sich die Crew des Berliner Rettungsschiffs Mare Liberum nicht mehr in den Hafen. Zu Beginn der Woche wurden sie von 15 maskierten Männern attackiert, die das Deck des Flüchtlingsschiffs mit Benzin übergossen.
«Es sind nicht alle Inselbewohner so», sagt die Freiwillige Tirza Weiss. «Aber ich merke, dass ich draussen immer misstrauischer werde.» Das mache sie traurig. «Ich will die Griechen doch genauso gern haben wie die Flüchtlinge.»
Grundversorgung von Flüchtlingen gefährdet
Der Hausarrest und die drohende Abreise frustrieren sie. «Meine Gedanken sind immer beim Flüchtlingscamp.» Mit zwei anderen Freiwilligen, der amerikanischen Landschaftsgärtnerin Marybeth Fisher (21) und der deutschen Tiermedizin-Studentin Patrizia Siegert (22), sitzt sie seit Tagen zu Hause. «Wir schützen in Moria besonders die Verletzlichen: Frauen und unbegleitete Minderjährige zum Beispiel. Ohne uns regieren im Camp die Starken.»
Eine berechtigte Sorge. «Viele Hilfsorganisationen schicken ihre Leute heim. Das wird einen ernsthaften Einfluss auf ihre Arbeit hier haben und die Grundversorgung von Flüchtlingen, die die Regierung selbst nicht leistet», sagt Experte Bill Frelick von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch zu BLICK.
«Das ist eine humanitäre Katastrophe»
Schon jetzt, nach nur wenigen Tagen, mehren sich die Schreckensberichte aus dem hoffnungslos überfüllten Camp. Streit, den niemand schlichtet. Keine Essensausgabe für unbegleitete Kinder. Männer, die ungehindert in die geschützten Bereiche für Frauen eindringen.
«Die Krise nach Erdogans Grenzöffnung war nicht, dass Menschen hier angekommen sind, sondern die Krise war, dass Rechtsstaatlichkeit nicht mehr in Kraft war, dass Menschenrechte ausgesetzt wurden und dass marodierende Banden auf der Insel völlig freien Lauf hatten», sagt der Europa-Abgeordnete Erik Marquardt (32) zu BLICK. «Dass viele Hilfsorganisationen jetzt nicht mehr arbeiten können, ist eine humanitäre Katastrophe.»
Der Schweizerin Tirza Weiss aber sind erst mal die Hände gebunden. Sie muss die Anweisung ihrer Organisation respektieren – auch wenn es schmerzt.