Der Sophienpatz im Kiewer Stadtzentrum ist brechend voll. Bei minus 15 Grad wird gesungen und gejohlt, immer mehr in dicke Pelzmäntel gehüllte Menschen strömen aus den steilen Gassen direkt auf den Weihnachtsmarkt. Über ihren Köpfen strahlen Lichterketten und die goldenen Kuppeln der Sophienkathedrale durch den Schnee.
Denn in der Ukraine tickt die Zeit anders. Während diese Woche in Westeuropa die Gespräche mit Russland stattgefunden haben, steckt die Ukraine nicht nur im Krieg, sondern wegen der julianischen Zeitrechnung auch noch mitten in der Weihnachts- und Neujahrszeit.
Die ungewollte Befreiung
Versteckt in einem Hinterhof zwischen hohen Häuserblocks, nur fünf Gehminuten vom Sophienplatz entfernt, sitzt die Fotografin und Linguistikstudentin Sophia Winnitschenko (21) in einem hippen Café. Weil sie in Berlin Kunst studieren will, lernt sie Deutsch. Englisch und Ukrainisch spricht sie fliessend. Dass die ukrainische Sprache nach langer Unterdrückung während der Sowjetzeit nun wieder gefördert werde, findet sie sehr gut. «Aber meine Muttersprache, in der ich denke und träume, ist Russisch.» Die Sprache des Feindes. Seit der ukrainischen Maidan-Revolution 2014 wechselt Winnitschenko lieber auf Ukrainisch, sobald sie in ihrer Heimatstadt Kiew auf Unbekannte trifft.
Winnitschenko hat Familie und Freunde in Russland. Trotzdem falle es ihr schwer, Russland nicht als Ganzes als Feind abzustempeln, sondern zwischen Bevölkerung und Regierung zu unterscheiden. Denn die Propagandamaschine laufe in Russland wie geschmiert. Viele Russinnen und Russen glauben deshalb, dass eine erneute Invasion in die Ukraine die Russisch sprechenden Ukrainerinnen befreien würde. «Völlig absurd», sagt Winnitschenko. «Die allermeisten von uns wollen nicht zu Russland gehören. Und den Krieg, den wollen wir schon gar nicht.»
Russland, der toxische Nachbar
Als Russland vor einigen Wochen rund 100'000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine zusammenzog, sei eine Freundin Winnitschenkos zurück zu ihrer Mutter aufs Land gezogen. Um im Fall der Fälle bei ihr sein zu können. Doch man werde merkwürdig abgestumpft, so Winnitschenko: «Wenn man selber niemanden im Kampf verloren hat, gewöhnt man sich an den Kriegszustand.»
Dem Filmemacher Oleksiy Radynski (37) geht es ähnlich. «Für uns, die nicht direkt an der Front leben, ist der Krieg mitsamt all seinen eigentlich komplett inakzeptablen Eigenheiten zum neuen Normal geworden.» Er kritisiert die eigene Regierung: Sie nütze den Konflikt aus, indem sie viele ungerechte Entscheidungen durchboxe und diese mit der Extremsituation des Krieges rechtfertige.
Dennoch: Das Leben in Kiew sei nicht einmal ansatzweise mit dem Leben an der Kriegsfront im Osten des Landes zu vergleichen. Dort, wo Armut, Flucht und Tod an der Tagesordnung sind. Radynski sagt: «Russland zum Nachbarn zu haben, ist, als hätte man vor 30 Jahren eine toxische Beziehung beendet, aber noch heute eine einstweilige Verfügung beantragen müsste.»
Die beklemmende Nato-Ungewissheit
Etwas weiter, im Blue Cup Coffee direkt an der belebten Puschinskastrasse, hat Anastasiia Schewtschenko (28) nach der Arbeit zu Abend gegessen. Sie ist Kreativdirektorin bei der Oppositionspartei Demokratische Axt. Schewtschenko ist in Kiew aufgewachsen, liebt ihre Stadt und hatte nie das Bedürfnis, sonst wo zu leben.
Dass diese Woche Gespräche zwischen Russland, Nato und EU stattgefunden hätten, sei zwar ein Fortschritt, sagt Schewtschenko und fährt sich über die raspelkurzen Haare. «Doch können wir in der Ukraine nicht unsere ganze Hoffnung auf den Westen setzen – schliesslich wissen wir überhaupt nicht, ob und wann wir Nato-Mitglied werden können.»
Auch Schewtschenko sieht vor allem in der eigenen Regierung Handlungsbedarf: «Unser Präsident Wolodymyr Selenskyj unternimmt leider nicht das Geringste, um die Forderungen zu erfüllen, die die Nato oder der Internationale Währungsfonds für eine Aufnahme an die Ukraine stellen.» Das Hauptproblem: Die ukrainische Regierung suche nicht nach langfristigen Lösungen für ihr Land, sondern kümmere sich nur um die eigenen Geschäfte und das oligarchische System, sagt Schewtschenko. «Könnten wir die Forderungen der Nato erfüllen, hätten wir vielleicht eine Chance.»
Benno Zogg (32), Co-Leiter des Programms Frieden und Sicherheit bei Foraus sowie Senior Researcher beim Thinktank des Center for Security Studies (CSS) an der ETH Zürich, schätzt für Blick die Situation in der Ukraine ein: «Grosse Erwartungen an die Gespräche dieser Woche waren fehl am Platz. Es ging erst einmal hauptsächlich darum, dass die Parteien ihre fast schon gegensätzlichen Positionen bestätigt haben. Die grosse Frage lautet: Gibt es auf der Seite Russlands überhaupt Raum für Kompromisse? Oder handelt es sich nur um ein Pseudoangebot, damit Putin sagen kann, er habe ja versucht zu verhandeln? Das Risiko einer erneuten Ukraine-Invasion bleibt schwer abzuschätzen. Ich glaube jedoch eher, dass die Drohkulisse die Verhandlungen in Gang setzen soll. Durch den Aufmarsch wird Russland wieder ernster genommen, man setzt sich mit ihnen zusammen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion in den 90er-Jahren ist es auch im Westen zu Versäumnissen gekommen. Man hat Russlands Perspektive teilweise zu wenig integriert. Dies heisst jedoch nicht, dass der Westen Schuld an Russlands imperialistischen und autokratischen Handlungen trägt. Dass man nun erstmals seit der Ukraine-Krise von 2014/2015 wieder substanziell miteinander spricht, verhandelt und Kommunikationskanäle aufbaut, statt sich nur gegenseitig zu beschuldigen, ist hoffentlich der Anfang eines Prozesses zur Lösungsfindung.»
Benno Zogg (32), Co-Leiter des Programms Frieden und Sicherheit bei Foraus sowie Senior Researcher beim Thinktank des Center for Security Studies (CSS) an der ETH Zürich, schätzt für Blick die Situation in der Ukraine ein: «Grosse Erwartungen an die Gespräche dieser Woche waren fehl am Platz. Es ging erst einmal hauptsächlich darum, dass die Parteien ihre fast schon gegensätzlichen Positionen bestätigt haben. Die grosse Frage lautet: Gibt es auf der Seite Russlands überhaupt Raum für Kompromisse? Oder handelt es sich nur um ein Pseudoangebot, damit Putin sagen kann, er habe ja versucht zu verhandeln? Das Risiko einer erneuten Ukraine-Invasion bleibt schwer abzuschätzen. Ich glaube jedoch eher, dass die Drohkulisse die Verhandlungen in Gang setzen soll. Durch den Aufmarsch wird Russland wieder ernster genommen, man setzt sich mit ihnen zusammen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion in den 90er-Jahren ist es auch im Westen zu Versäumnissen gekommen. Man hat Russlands Perspektive teilweise zu wenig integriert. Dies heisst jedoch nicht, dass der Westen Schuld an Russlands imperialistischen und autokratischen Handlungen trägt. Dass man nun erstmals seit der Ukraine-Krise von 2014/2015 wieder substanziell miteinander spricht, verhandelt und Kommunikationskanäle aufbaut, statt sich nur gegenseitig zu beschuldigen, ist hoffentlich der Anfang eines Prozesses zur Lösungsfindung.»